"Ich wurde als Verräterin beschimpft"

Israel Gewalt ist an der Tagesordnung: Israelische Soldaten sprechen über ihre Erfahrungen in den besetzten Gebieten und brechen damit ein Tabu
Während einer Übung für den Ernstfall kämpft sich eine israelische Soldatin durch die Rauschwaden
Während einer Übung für den Ernstfall kämpft sich eine israelische Soldatin durch die Rauschwaden

Foto: Uriel Sinal/Getty Images

Dana Golan war Soldatin. Mit 18 Jahren wurde sie eingezogen, um die Sicherheit ihres Landes zu gewährleisten. Heute ist sie Aktivistin. Und als Aktivistin hat sie jetzt in Berlin ein Buch vorgestellt, das sie wesentlich mit auf den Weg gebracht hat: „Breaking the Silence“. Doch welches Schweigen gilt es zu brechen?

Mehr als 800 ehemalige Soldaten haben sich zusammen getan und über ihre Erlebnisse in den von Israel besetzten Gebieten gesprochen, 164 Interviews wurden anonym in dem Buch veröffentlicht, das vor allem die Zweifel der jungen Frauen und Männer deutlich macht. „Am Anfang dachten wir, alles was die Armee macht, ist als Verteidigung gedacht“, berichtet Golan. Doch mit der Zeit sei ihr klar geworden, dass viele Aktionen eben doch nicht rein defensiv waren. „Ich wurde als Verräterin beschimpft, als ich über das redete, was wirklich vor sich ging“, sagt sie. Dennoch wollen viele Soldaten nicht länger schweigen über das, was sie gesehen oder sogar selbst getan haben. Sie sind stolz auf ihr Land, das betonen sie immer wieder, doch wollen sie Regeln nicht mehr blind befolgen.

Für Israelis ist ihre Armee logische Konsequenz der jüdischen Geschichte permanenter Bedrohung. Es herrscht eine allgemeine Wehrpflicht, Frauen und Männer werden mit 18 Jahren für zwei beziehungsweise drei Jahre in den Wehrdienst eingezogen, und die allermeisten Rekruten sehen ihren Dienst als Selbstverständlichkeit. „Israel cannot afford to lose a single war“ – Israel kann es sich nicht leisten, einen einzigen Krieg zu verlieren, lautet die zentrale Doktrin der Streitkräfte.

Die Wenigsten wissen, was wirklich passiert

Die Landesverteidigung stellen auch die Aktivisten von „Breaking the Silence“ nicht in Frage. Aber wie ist sie in Deckung zu bringen mit dem Verhalten der Streitkräfte in den besetzten Gebieten?

Wie lässt sich die Gewalt rechtfertigen, mit der Soldaten gegen Palästinenser vorgehen? Es sind solche Fragen, die die jungen Reservisten umtreiben. „Die meisten Israelis haben keine Ahnung davon, was in den besetzten Gebieten passiert“, erklärt Dana Golan. Premierminister Benjamin Netanjahu sieht kein Schweigen, das es zu brechen gilt, und viele Bürger Israels teilen diese Meinung. Deshalb sei es für „Breaking the Silence“ so wichtig – und so schwierig –, darüber zu berichten.

Die jungen Aktivisten berichten von einer Realität, die sie erschreckt hat. Die Armee soll Terrorangriffe verhindern, doch wird dieser Begriff laut „Breaking the Silence“ sehr weit gefasst. Er diene eher als Deckmantel, unter dem man die palästinensische Bevölkerung einzuschüchtern versucht – zum Beispiel mit dem sogenannten Präsenz zeigen. Was das bedeutet, wird sehr unterschiedlich ausgelegt, wie die Soldaten berichten. Doch kann „Präsenz zeigen“ auch heißen, nachts lärmend durch die Straßen zu ziehen und willkürlich in Häuser einzudringen. „Man geht mit dem Ziel in das Haus, vielleicht etwas Verdächtiges zu finden, man weiß noch nicht einmal, was genau“, sagt ein Soldat. Es gehe einfach darum, alles zu durchsuchen. Manchmal komme es zu Plünderungen.

Eine Gefahr für die Demokratie

Viele Soldaten berichten, dass sie während ihres Einsatzes oft völlig überfordert gewesen seien und auch aus diesem Grund Anweisungen nicht widersprochen hätten. So gab es nach ihren Worten auch keinen Aufschrei der Empörung, als ein Kommandeur anordnete, jedes Kind zu erschießen, das einen Stein in den Händen halte, da ein Stein ein potenzielles Mordinstrument sei. Aber dann kam für viele eben doch der Moment, in dem sie wie erwacht sind aus dem blinden Gehorsam: „Ich habe gespürt, dass mein Leben nicht mehr wert ist, als das der Palästinenser“, sagt Dana Golan. Es habe sie schockiert zu sehen, wie Kinder eine Verhaftung nachspielten, weil so etwas für sie alltäglich war.

„Wir wollen die Realität ändern, indem wir darüber sprechen“, beschreibt sie das Ziel von „Breaking the Silence“. Die Demokratie in ihrer Heimat sieht sie in Gefahr, oft habe sie während ihres Wehrdienstes Gewalt gegen Unschuldige beobachtet. „Doch als Juden wollen wir friedlich mit anderen zusammen leben“, sagt die Aktivistin.

So sprechen die Soldaten über die Erschießung unbewaffneter Männer, menschliche Schutzschilde und einen oft würdelosen Umgang mit den Palästinensern vor allem aus einem Grund: Es soll endlich ein Dialog über ein Thema beginnen, das in der israelischen Bevölkerung viel zu lange tot geschwiegen wurde.

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