Europa - kann es auch Realkrise?

Flüchtingssituation Europa, als erster grenzenüberwindender Staatenbund, zieht die Mauer hoch.

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Die ganze Welt blickt aktuell nur noch nach Mitteleuropa. Während die ungarische Regierung unter Viktor Orbán und seiner protofaschistischen Partei Fidesz die Grenzen gen Norden öffnet (um sie im Süden wieder zu schließen), und die Republik Österreich den Großteil der Asylbewerber*innen in die Bundesrepublik durchwinkt, stellen sich mehrere Fragen. Wie mit der aktuellen Flüchtlingswelle so human, doch auch so rational wie möglich umgehen? Angela Merkel (CDU) entschied sich in den Tagen für einen relativ menschenfreundlichen Weg, der sich jedoch einer zeitlichen Begrenzung unterordnen wird. Man darf nun nicht die aktuelle Situation dafür instrumentalisieren, um den missglückten Friedensnobelpreis der Europäischen Union zu verteidigen, denn das ist ein europäisches "Problem", kein bundesrepublikanisches. Dass der Großteil der Flüchtlinge den Weg nach Deutschland aufsucht, hat simple Gründe, die jedoch erst mit einer kapitalistischen Kritik einhergehend erst ihre Entfaltung finden werden. Dass gerade der Süden Europas, der nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich unter dem Brüsseler und Berliner Diktat leidet, nun im Zuge des Dublin-II-Abkommens - in diesem Fall - juristisch den Großteil der Flüchtlinge aufnehmen muss ist eine perfide Ironie, die auch von rechtspopulistischen Parteien, wie der AfD, aufgenommen und rezipiert wird.

Dabei bedarf es zwei unterschiedlicher Phänomene, die diesen Strom erklärt. Einerseits besitzt Deutschland nur deswegen das wirtschaftliche Monopol in der EU, weil durch die unterschiedlichen Kauf- und Produktionskräfte in den Staaten ein natürliches Ungleichgewicht entsteht, das nicht verschwindet, wenn ökonomische und finanzpolitische Standards gesetzt werden, die sich am status quo der Bundesrepublik orientieren. Das Vorhaben, ein deutsches Europa zu erreichen, war schon von Anfang am zum Scheitern verurteilt, und die Quittung haben jetzt jene Staaten zu tragen, die bereits vor der Wirtschafts- und Währungsunion mit dem bundesrepublikanischen "Wirtschaftswunder" nicht mithalten konnten. Diese Diskrepanz ist auch heute noch nicht überwunden, und wird auch nicht überwunden werden, wenn die Troika mit ihren Bedingungen ein Modell zu zementieren versucht, das den germanisch-neoliberalen Wahnsinn fortsetzen möchte. Unter diesem Gesichtspunkt ist es nicht verwunderlich, dass euphemistische und apostrophierte "Wirtschaftsflüchtlinge" selbstverständlich die Bundesrepublik aufsuchen. Und jene Gruppe Mensch darf nicht selektiv als Flüchtlinge zweiter Klasse abgetan werden, denn auch ein wirtschaftliches Desaster wurde durch Zerstörungswut erschaffen, ganz gleich, ob finanzpolitischer oder militärischer Natur.

Dass nun täglich mehr Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak oder weiteren nahöstlichen Staaten nach Europa ziehen, um einerseits dem islamistischen Terror zu entfliehen und andererseits innerparteilicher Konflikte - die beide von westlichen Mächten auf direkte oder indirekte Weise begünstigt werden - dann trägt die Bundesregierung und defacto auch Angela Merkel eine (Mit)Schuld, denn, um den kontroversen Dokumentarfilmer Michael Moore zu zitieren, amoralische Aktionen provozieren amoralische Reaktionen. Die militärisch-desaströsen Aktionen in besagten Staaten, die nun faktisch von jener Reaktionen - dem Islamischen Staat - überrannt werden, zeigt das Dilemma auf sowie das Totalversagen der Industrienationen, rational und langsichtig zu intervenieren. Die "Symptome" dieser Situation, die Flüchtlinge, retten sich nun in die Staaten, die Schutz bieten können und auch bieten müssen. Natürlich ist es leicht zu sagen, eine "Rückführung" in die Heimatstaaten hat eine gewisse Priorität, jedoch darf man nie vergessen, dass die Staaten, die sich über die "Flüchtlingswelle" empören, genau jene Zerstörung forcierten, aus verschiedensten Gründen, teils wegen blinder Solidarität mit den USA.

Dem Jugendlichen, dem in Griechenland keine Zukunft gesichert wird, und die Suizidrate enorm gestiegen ist, hat dieselbe und gleichwertige Berechtigung, als Flüchtling oder später Asylbewerber toleriert und anerkannt zu werden, wie die Familie, die aus Damaskus flieht. Die aktuelle politische Entscheidung, in der sich Angela Merkel wähnt, wird von einigen Stimmen nun als "links" bezeichnet, wobei das ein Trugschluss ist. Im Grunde ist dieser Weg, so humanistisch und wichtig er auch war und ist, ein stummes Eingeständnis des Kurses von Viktor Orbán. Diese Entwicklung erinnert an die Situation von Australien in den 1930er Jahren, als über die Situation der Jüdinnen und Juden diskutiert wurde. Australien Aussage, sie mögen keinen Juden ins Land lassen, weil sie den Antisemitimus nicht ins Land lassen möchten, ist ein Paradebeispiel für das krankhafte Verhältnis von Symptom- und Ursachenbekämpfung. Die Abwehrhaltung gegenüber den Flüchtlingen wird die Ursache nicht lösen. Und wir müssen uns an die Situation gewöhnen, dass die Idee der Europäischen Einheit und Verständigung der Staaten nicht nur auf Europa begrenzt werden darf. Europa ist der erste Staatenbund, der die Grenzen überwunden hat, und gerade dieser Staatenbund kämpft heute vehement an den europäischen Außengrenzen, um die europäische Idee rein europäisch zu halten. Das ist reiner Nationalismus, genau jene Haltung, die die EU überwinden wollte. Die Spaltung zwischen Nord- und Südeuropa ist in diesem Schritt die logische Konsequenz.

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