Als die USA nach 9/11 dem internationalen Terrorismus den Kampf ansagten, war klar, dass es einen Wandel in der amerikanischen Politik geben würde. Konzepte wie das „kreative Chaos“ und der „neue Nahe Osten“ stehen dafür. Washington wollte die Region zu einem rentableren Absatzmarkt machen und die dortige Politik noch mehr zu seinen Gunsten beeinflussen. Der Krieg im Irak, der vor allem wegen seiner Bodenschätze und seiner strategisch wichtigen Lage einen idealen Brückenkopf für die Neugestaltung des Nahen Ostens abgab, sollte zugleich ein Exempel statuieren: Unantastbar waren demnach die Grenzen von 1945, das Existenzrecht Israels und dessen Sonderstatus sowie der uneingeschränkte Zugriff der Amerikaner auf günstiges Erdöl.
Angesichts dieser Neuauflage der alten Dichotomie aus unverrückbaren Prinzipien und pragmatischer Flexibilität reagierten die betroffenen arabischen Regimes im Wesentlichen auf zweierlei Art: Die meisten Regierungschefs – vom Golf über Ägypten, bis Marokko – fanden sich mit der US-Politik ab und bemühten sich weiterhin um ein gutes Verhältnis zur Großmacht. Anderen Staaten, wie dem Libanon oder Syrien, gelang es, ihre strategisch wichtige Rolle in der Region zu bewahren und sich gegen die Pläne der Amerikaner zu wehren. Das syrische Regime konnte seinen Herrschaftsanspruch zusätzlich legitimieren und den Status als geistiger Mittelpunkt des Panarabismus (s. A-Z S.32) aufrechterhalten.
Ein flüchtiger Blick auf den Diskurs in der Region genügte, um festzustellen, dass der politische Wandel eine Veränderung im Bewusstsein mit sich brachte. Nachdem sich diverse Ideologien als gescheitert und der arabische Nationalismus sich als sinnentleert erwiesen hatte, fiel das politische Denken in ein tiefes Loch. Tatsächlich machte sich bei den Politikern und Intellektuellen im arabischen Raum die Tendenz bemerkbar, sich mit den Machtverhältnissen zu arrangieren, insbesondere mit dem synthetischen Konstrukt der „Neuen Weltordnung“ und den damit verbundenen globalen Herrschaftsansprüchen, aber auch mit der Willkürherrschaft diverser arabischer Regimes. Eine Änderung schien nicht in Sicht.
Unberechenbare Geschichte
Infolgedessen gingen die politischen „Macher“ im In- und Ausland zusehends dazu über, das arabische Volk als Objekt zu betrachten, es auszugrenzen und ihm jegliches Recht auf Selbstbestimmung abzuerkennen. Dabei vergaßen sie nicht nur historische Gesetzmäßigkeiten, sondern auch die Unberechenbarkeit der Geschichte. Und die Länder des Westens, allen voran die USA, hatten ein orientalistisch geprägtes Bild aus vergangenen Zeiten im Kopf, das die Araber als homogene Masse darstellt.
Entsprechend ratlos stand man nun dem Arabischen Frühling gegenüber. Weil niemand dem Volk zugetraut hatte, etwas zu verändern, konnte sich das in der unmittelbaren Reichweite des Westens gelegene säkulare Tunesien selbst befreien, und zwar ohne westliche Hilfe. Um diese Scharte auszuwetzen, ließ der Westen in Ägypten seinen Schützling Mubarak schleunigst fallen. Im nach wie vor stark tribalistisch geprägten Libyen ergriff der Westen höchst eilig militärische Maßnahmen. Gegen die Niederschlagung der Protestkundgebungen in Bahrain hingegen, die als schiitisches Sektierertum bezeichnet wurden, hatte der Westen nichts einzuwenden. Dem Jemen wurde seine geografische Lage am äußersten Rand der Arabischen Halbinsel zum Verhängnis: Kaum jemand nimmt Notiz von den dort seit nunmehr fast sieben Monaten anhaltenden Protesten. Für ein anderes arabisches Land wurde wiederum seine zentrale Lage zum Fluch: Alle Welt schaut auf Syrien, während der Westen noch über einen Urteilsspruch diskutiert.
Noch ist der Westen zu beschäftigt mit den unmittelbaren Folgen des Arabischen Frühlings, um zu erkennen, dass auch eine Revolutionierung des Bewusstseins, der Kultur und des Wertesystems stattgefunden hat, und dass zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte der modernen arabischen Welt so etwas wie eine „arabische Identität“ geschaffen wurde. Somit werden politische Belange in der Region zukünftig nicht mehr als „Orient-Frage“, sondern als „arabische Frage“ angesehen werden müssen. Der Orient als einstiger Spielball des Westens hat eine eigene arabische Identität bekommen und wird bei der Gestaltung seiner Zukunft zumindest als ein gleichwertiger Partner angesehen werden wollen. Wird sich der Westen damit abfinden können, dass die Araber die Gestaltung des „neuen Nahen Ostens“ selbst in die Hand nehmen? Und was wird die Region in Zukunft für den Westen sein? Wahrscheinlich wieder einmal „der ewige Osten“.
Nariman Amer, 33, syrische Philosophin und Publizistin. Sie ist Dozentin für amerikanische Philosophie an der Universität Damaskus und schreibt für die libanesischen Zeitungen Al-Hayat und Al-Adab
Dieser Text ist Teil der Freitag-Sonderausgabe 9/11, die der Perspektive der arabisch-muslimischen Welt auf die Terroranschläge und ihre Folgen gewidmet ist. Durch einen Klick auf den Button gelangen Sie zum Editorial, das einen ausführlichen Einblick in das Projekt vermittelt. In den kommenden Tagen werden dort die weiteren Texte der Sonderausgabe verlinkt
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