Ein kleines Licht in dunklen Zeiten: Weihnachtsbaum in Mykolaiv
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Weihnachten in der Ukraine zu feiern war schon immer sehr verwirrend. In meiner Kindheit war Weihnachten eigentlich verboten. Beziehungsweise nicht ganz verboten. Offiziell war die Religion erlaubt, man durfte bloß nicht auffallen. An großen Feiertagen stand vor dem Eingang jeder Kirche in Lwiw Lehrpersonal und führte Listen, welche Schüler die Kirche besuchten. Besuchen durfte man sowieso nur die orthodoxe Kirche, alle anderen waren verboten, manche wurden sogar verfolgt, weil sie im Untergrund heimlich tätig waren. Die Priester der erlaubten Kirchen mussten eng mit den Sicherheitsorganen zusammenarbeiten. Was sie dort gebeichtet haben, wissen wir bis heute nicht.
Meine Eltern waren immer gläubig, auch damals, als es ihrer Karriere schaden konnte. Deswegen sin
swegen sind wir nie in Lwiw zum Gottesdienst gegangen, sondern zur Oma aufs Dorf gefahren. Dort war es einfacher, nicht in der Kirche ertappt zu werden. Aus meiner Kindheit kann ich mich noch sehr gut daran erinnern, wie stark der Weihrauch roch, vor allem in der Morgendämmerung, da man immer nachts zum Gottesdienst ging. In der überfüllten Dorfkirche wurde mir oft schwindelig. Damals wurde das Haus von meiner Oma noch mit Holz geheizt. Ich durfte auf dem riesigen Kachelofen schlafen, was sehr gemütlich aussah. Abends wurde der Ofen befeuert und im Zimmer blieb kaum Luft. Bis zum Morgen war es dann schon wieder sehr kalt. Ich erinnere mich noch an das Gefühl, in einem eiskalten Zimmer aufzuwachen, in das gleichzeitig keine frische Luft hineinkam.In den letzten Tagen sprechen meine Eltern immer öfter davon, dass sie, falls es „ganz schlimm“ kommt, in Omas Haus umziehen und mit Holz heizen werden. Ich weiß nicht, was sie sich unter „ganz schlimm“ vorstellen. Im Moment haben sie in ihrer Wohnung in Lwiw nur ein paar Stunden am Tag Strom, Wasser und Heizung. Sie sind aber froh, dass sie zumindest diese wenigen Stunden genießen können, viele sind tagelang ganz ohne Strom. Ich kann mir auch sehr schlecht vorstellen, wie es meine über 70-jährigen Eltern schaffen könnten, täglich Holz zu hacken und ständig aufzupassen, dass der Ofen nicht zu kalt wird. Auch nachts. Ich weiß nicht einmal, ob es noch irgendwo in der Ukraine Holz zu kaufen gibt, so wie es fast unmöglich geworden ist, überteuerte Stromgeneratoren zu kaufen.Das alles passt schlecht zum Weihnachtsbild, das wir aus der Werbung kennen – Tannenbaum, Geschenke, großartige Stimmung, alle Verwandten beisammen, alle freuen sich. Aber so ist es nun mal.Zwei Kalender, irre viele FesteAls die Ukraine nicht mehr zur Sowjetunion gehörte, gab es kein Verbot mehr für religiöse Feste. Aber es blieb ein großes Durcheinander wegen des gregorianischen und des julianischen Kalenders. Wenn die ganze westliche Welt bereits Geschenke auspackte, herrschte bei uns noch strenges Fasten. Offiziell. Und auch nur für diejenige, die religiös waren. Viele waren da schon mittendrin im Feiern, was die Stimmung etwas merkwürdig machte.Früher wurde es als Zeichen des Widerstands gegen das sowjetische Regime angesehen, wenn man Weihnachten am 24. Dezember statt am 6. Januar feierte. Meine Oma feierte es immer am 24. Sie stellte den Tannenbaum auf und wir kamen „für den ersten Heiligabend“. Den zweiten wollte man auch nicht ignorieren, und so feierte man am 6. Januar wieder. Dazwischen gab es Silvester am 31. Dezember und danach ein „altes Neues Jahr“ am 13. Januar, nach dem gregorianischen Kalender. Und das waren natürlich längst nicht alle Feierlichkeiten, die anfielen. So gut wie jeden Tag gab es irgendeinen „wichtigen“ Namenstag zu feiern und so funktionierte das Alltagsleben in der Zeit zwischen den beiden Weihnachten nicht wie gewohnt. Man beauftragte in dieser Zeit am besten keine Handwerker mit wichtigen Reparaturen, da es möglich war, dass sie den ganzen Monat außerstande waren, zur Arbeit zu kommen. Trotzdem herrschte überall eine gelassene, feierliche Stimmung, abends zogen „Vertepe“ durch die Stadt – verkleidete Erwachsene und Kinder, die Weihnachtslieder sangen und Mysterienspiele oder ironische weltliche Minivorstellungen aufführten. Sie zogen von einer Wohnung zur anderen, überall saßen die Familien an den üppig gedeckten Tischen und sangen mit, danach bedankten sie sich bei den Vertepe mit Essen oder Kleingeld. Die Vertepe waren zur Sowjetzeit auch verboten, und ich sah diesen Brauch nur bei meiner Oma, auf dem Dorf. In der Stadt gingen nur Schulkinder von Wohnung zur Wohnung und sangen Weihnachtslieder gegen eine kleine Entlohnung. Placeholder infobox-1Wenn diese lange Kette der Feierlichkeiten ihrem Ende zuging, sehnten sich fast alle nach dem normalen Alltag. Besonders hart trafen all diese Rituale die Frauen. Noch in der Sowjetzeit durften die Frauen am 6. Januar eine Stunde früher den Arbeitsplatz verlassen, damit sie die Speisen für die Familienfeier vorbereiten konnten. Es galt als inoffizielle Unterstützung der Religion, viele Chefs brüsteten sich stolz dieses Zugeständnisses. Eine Stunde ist schon sehr großzügig, wenn man bedenkt, dass die Frau zwölf vegane Speisen zubereiten muss, jede davon enorm aufwendig und kompliziert. Am nächsten Tag sollten die Frauen ein nicht weniger reichhaltiges Angebot auf den Tisch stellen, dieses Mal überwiegend Fleischspeisen. Das alles wiederholte sich zweimal, dem gregorianischen und dem julianischen Kalender entsprechend.Als Kind sollte ich meiner Mutter und beiden Omas bei diesen Vorbereitungen helfen, was Weihnachten für mich zu einer Qual machte, zuerst in der Küche und dann am Tisch. Nach Verzehr so vieler unterschiedlicher Speisen, selbst in Mikrodosis, war mir noch tagelang schlecht. Dieses Gefühl passte eigentlich auch nicht besonders gut ins Weihnachtsbild.Seit vielen Jahren muss ich nicht mehr dabei helfen, die unzähligen Weihnachtsspeisen zu kochen, und staune jedes Mal darüber, dass meine Mutter es immer noch jedes Jahr schafft. Bis jetzt wurde bei uns streng nach den Regeln gefeiert, und insgeheim wünschte ich mir immer, dass es irgendwann möglich sein würde, Weihnachten anders zu feiern. Eine Reise zu machen, zum Beispiel, die Zeit einfach entspannt und ganz ohne traditionelle Rituale zu verbringen. Und dass auch meine Eltern entspannt Urlaub machen würden, danach würden wir uns dann mit der ganzen Familie treffen, normal, ohne überflüssige, anstrengende Vorbereitungen. Dieses Jahr wird es so sein. Meine Eltern wissen noch nicht, wo sie zur Weihnachtszeit sein werden, bei sich zu Hause, bei der Oma oder, falls es doch „ganz schlimm kommt“, ganz woanders. Mein Mann ist an der Front und wird über jede Stunde mit Strom froh sein, die Verbindung mit ihm ist in letzter Zeit besonders schwierig wegen der ständigen Stromausfälle. Mein Sohn wird mit seinen WG-Freunden feiern. Ich und meine Tochter werden wegfahren, um die Weihnachtszeit und den „ersten Heiligabend“ zu überbrücken und nicht vereinsamt in unserem Zimmer im Collegienhaus in Marbach zu sitzen, wie es bereits Ostern in diesem Jahr der Fall war. Und obwohl Wegfahren genau das ist, was ich mir oft insgeheim gewünscht habe, empfinde ich jetzt kaum Freude. Klar, Urlaub ist immer schön, und kochen muss ich nicht, genauso wenig wie für lange Nachtgottesdienste in die Kirche gehen. Aber die Freude ist mir trotzdem gestohlen worden.Und von Freude auch sonst keine Spur. Was ja kein Wunder ist. Seit Monaten sehe ich auf Facebook überwiegend Fotos mit Militäruniformen statt Bikinis am Strand, Begräbnisse statt Geburtstage und Beschüsse statt Bescherungen. Ab und zu gibt es Hochzeitsfotos, auch überwiegend in Militäruniform, aber viel öfter sammelt man für die Witwen und Waisen dieses Krieges.Es gibt auf Ukrainisch sehr traurige und politische Weihnachtslieder. Sie erzählen von Weihnachten in Galizien im Jahr 1946, nach der ersten Welle des sowjetischen Terrors. Galizien wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg Teil der Sowjetunion. In diesen Liedern beweint man Familien, die ohne ihre nach Sibirien geschickten oder ermordeten Verwandten feiern müssen. Früher sang man diese Lieder nur in Galizien. Jetzt sind die Lieder wieder aktuell, und leider für das ganze Land. Was aber die Frage betrifft, ob ich mir Weihnachten mal anders wünsche, lautet die Antwort – ja. Ich wünsche es mir immer noch anders – anders als in der Sowjetunion, anders als in der patriarchalen Tradition, wo das Fest für die Frauen zusätzliche schwere Arbeit bedeutete, und anders als verwirrt, traurig, von Russland bedroht, und gezwungenermaßen nicht daheim. 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