Die Vernichtung Europas aus der Nähe sehen

Zwischen Chronik und Tagtraum Felix Hartlaubs Kriegsaufzeichnungen in einer überfälligen Neuedition sind obsessive Beobachtungen

Allzu oft und immer heimlich unterschlägt die Literaturgeschichte einige ihrer eigensinnigsten Kinder. Nicht alle können mitsingen im Kanon; manche Stimme passt zu keiner Mode, scheint nicht kräftig oder ausdrucksstark genug; manchen fehlt der lange Atem für große Arien. Felix Hartlaub hat kaum ein Lied zu Ende gesungen. Seine Hinterlassenschaft umfasst unzählige Fragmente, denen der selbstkritische Blick ihres Autors keine Ausweitung zu Erzählungen oder Romanen gönnte. "Alles ›über‹, alles Vermittelnde und Zusammenfassende macht mir die größten Schwierigkeiten", musste er bekennen, und entwickelte sich dabei zum Meister der Beobachtung, der dem, was er sah, mit einer sprachlichen Präzision auf den Leib rückte, die in der modernen deutschen Literatur wohl einmalig ist.
Seine dichtesten Texte stammen aus den Jahren 1939 bis 45, in denen der 26-Jährige frisch promovierte Historiker Hartlaub, eine wie es hieß "zarte, komplizierte Künstlernatur" im Akademikeranzug, zum Kriegsdiener wurde. Was ihm am Berliner Schreibtisch nicht gelingen wollte, wuchs ihm unter denkbar unhäuslichen Umständen zu: eine eigene Sprache; literarische Skizzen auf dem schmalen Grat zwischen Chronik und Tagtraum; messerscharf gezeichnete Sittenbilder einer Nation, die sich im Ausnahmezustand einrichtet. Romanrudimente eines blassen Mitläufers? Kommentarlose Nahaufnahmen der deutschen Kriegsmaschinerie? Nichts für Verlage, die in Aufbauzeiten für allenfalls wohldosierten Erinnerungsnachschub sorgten. Eine kleine Auswahl von Hartlaubs Texten erschien zwar schon 1950, das "Gesamtwerk" bei S. Fischer 1955, - aber hier wie da in geglätteter und gekürzter Form. Dass nun, fast 57 Jahre nach Kriegsende, erstmals eine zuverlässige und nahezu vollständige Edition dieser Kriegsaufzeichnungen vorliegt, ist der Hartnäckigkeit der Schwester Geno Hartlaub zu verdanken, die ihren 1945 im erbittert umkämpften Berlin verschwundenen Bruder um keinen Preis dem Vergessen überlassen wollte.
Allein das Sichten und Ordnen der zumeist undatierten Notizen und über 300 Briefe Hartlaubs aus den Kriegsjahren hat die Herausgeberin der neuen Edition, Gabriele Lieselotte Ewenz, mehr als zwei Jahre gekostet. Wieviel Mühe in ihrem umfangreichen Kommentar steckt, kann man nur ahnen. Hartlaubs Spätwerk nimmt nun 1.200 Seiten in Anspruch, - eine Fundgrube für den auf sprachlichen Rohstoff versessenen Leser. Die Ausgabe lässt aber nicht nur die unpolierte Textform hervortreten, sondern auch die eigentümliche Karriere des selbsternannten "Etappenhengstes" Hartlaub in seinen letzten fünf Lebensjahren: vom einfachen Gefreiten eines Sperrbataillons in "Schlicktown" Wilhelmshaven zum Archivar im ehemaligen Außenministerium des besetzten Paris; vom "Sperrstellenführer" in Rumänien bis hin zum Mitarbeiter am offiziellen Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht im Sperrkreis II des Führerhauptquartiers, in den Wäldern von Winniza (Ukraine), Rastenburg (Ostpreußen) und Berchtesgaden (Bayern). Ein zweifelhaftes Privileg, das Hartlaub seiner wissenschaftlichen Ausbildung und den weiterhin hervorragend funktionierenden Verbindungen der akademischen Welt verdanken durfte. Je enger er in die Apparatur der Machtzentrale eingebunden wird und je mehr Zeit vergeht, desto verzerrter, grotesker und surrealer werden seine Aufzeichnungen.
"Auf den Wiesenstreifen am Fluss hat die nahe Stadt menschliche Gestalten hingeleert, zusammengezogen liegen sie, mit kleinem Atem, flachem Bauch, in dünnem blutleerem Schlaf." Im besetzten Paris protokolliert Hartlaub, wie die Stadt ihr Leben aushaucht. Als würde sie zumindest kein Deutscher mehr je zu Gesicht bekommen, hält er die einmalige Architektur ebenso fest wie den Argwohn der Einwohner und das teutonische Gebaren der Besatzer. Menschen haben sich in entseelte Figurinen verwandelt, die im leerlaufenden Amüsement der Bars und Bordelle kreisen. Was ihnen an Lebendigkeit fehlt, ist in die Stadtlandschaft übergegangen: "Die Mauern scheinen ein graues schweres Gas auszuschwitzen. Wie jemand, der schon längst wieder einatmen müsste und immer noch ausatmet, zwischen den Zähnen hindurch, mit klopfenden Schläfen." "Paris stelle ich mir sehr traurig vor", schrieb Hartlaub in einem Brief vor seiner Ankunft: Seine schockgefrorenen Stillleben kommen ohne solche harmlosen Einschätzungen aus.
Die Schnitt- und Zoomtechniken des Erzählens hat Hartlaub vom zeitgenössischen Film gelernt; den präzisen Blick sowie die flüchtige Verknüpfung verschiedenster Elemente zu einem verblüffend treffsicheren Bild vom Zeichnen und der elterlichen Schule des Sehens. Der Vater, Direktor der Mannheimer Kunsthalle und einer der engagiertesten Kunsthistoriker der Weimarer Republik, führte die Kinder jeden Sonntag in die Kunsthalle. Und auch wenn Felix´ vielerprobtes zeichnerisches Talent den väterlichen Vorstellungen nicht ganz entsprechen wollte, so folgten doch schon seine literarischen Entwürfe aus der Schulzeit der Logik der Wahrnehmung. Als Hartlaub zum Zeugen geistiger Gleichschaltung wird, erweist sie sich für ihn als einzige Grundlage der Gegenrede: "Es heisst immer wieder", so ein Brief im Sommer 1940, "dass wir ... von hier fortkommen, ins besetzte Feindesland (was ich sehr begrüßen würde, denn man muss die Vernichtung Europas aus der Nähe sehen)".
Geradezu obsessiv observiert Hartlaub im Kriegsalltag auf den Feldern und in den Büros den Verlust jeglicher Identität - nicht zuletzt der eigenen. Denn er hält sich versteckt: "Der Mann mit der Tarnkappe", der "literarische Spion in Wehrmachtsuniform", wie er genannt wurde, besetzt jene Stelle, die in Tagebüchern üblicherweise ein souveränes Ich einnimmt, mit einem anonymen Er. Für die eigene Existenz, die - wie die Schwester einmal sagte - außerhalb des bildungsbürgerlichen "Treibhausklimas" des Elternhauses noch lange nicht Wurzeln geschlagen hat, ist in der kameradschaftlichen Enge und Schlaflosigkeit ohnehin kein Platz. Aber Hartlaub zieht sich nicht auf die 3. Person zurück, vielmehr karikiert er den Gesichtslosen, lässt ihn bis zum Schluss die Rolle des ohnmächtigen Mitläufers oder zappelnden Zynikers einnehmen.
Der Schluss spielt sich in einer gespenstisch unwirklichen Nähe der Vernichtung Europas ab, zwischen "Aktenmeldungen", "Wehrmachtsberichten" und "Schreibmaschinentischen", als zermürbend sinnentleerter Papierkrieg, mit dem sich wohlparfümierte Stabsoffiziere und manikürte Stabshelferinnen die Zeit vertrieben. Hartlaubs Aufzeichnungen aus dem Sperrkreis des Führerhauptquartiers führen die Banalität der deutschen Kriegsverwaltungsmaschinerie erschreckend eindringlich vor Augen. Seine kristallklare Prosa mutiert zu einem vielzüngigen, rastlosen Sprachmonster, aus dem hier rauhes Landsergeschwätz poltert, dort Kürzelmunition prasselt, Stellungen und Vorschriften bis zum Irrsinn durchdekliniert werden. Der anonyme Held degeneriert zum "Schreibfinger, Leseauge, Sehkanal" zwischen einem "Haufen gefälliger Kautschukzwerge, ... halbblinder Arbeitselefanten und ... scharfer Doggen". Hartlaub, der stille Schreiber im Sperrkreis II, muss in dieser Zeit kaum mehr geschlafen haben: am Tag das stupide Protokoll des Kriegsverlaufs, nachts, heimlich, in aller Eile die Aufzeichnungen über die im Bunker buckelnden Offiziere, die allgemeine Herz- und Sprachverkrümmung. Hartlaub war kein Widerständler, wohl aber ein Widerschreiber: Und dann Auffangen, Auskämmen, Feldjägerkommandos, Durchgreifen, Wiederherstellen, Kriegsgericht, da haben wir allerdings noch ein Bündel ziemlich straffer Befehle, aber die richten sich eigentlich mehr gegen uns selbst.

Felix Hartlaub: In den eigenen Umriss gebannt. Kriegsaufzeichnungen, literarische Fragmente und Briefe aus den Jahren 1939 bis 1945. Hrsg. v. Gabriele Lieselotte Ewenz. Zwei Bände in Kassette. 1200 S., Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2002, 64,- EUR


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