Mich interessieren bei meiner Arbeit vor allem Menschen, deren Leben einen Bruch erfahren hat. Während meines Fotografie-Studiums in Weimar bin ich auf das dortige Obdachlosenheim gestoßen. Es ist ein Wohnhaus am Rande der Stadt, dahinter liegt eine Brache. Schon rein visuell signalisiert das Haus: Hier leben Menschen, die aus der Gesellschaft herausgefallen sind. 2006 war ich das erste Mal dort, stellte mich den Bewohnern und Sozialarbeitern vor – und sagte ihnen, dass ich gern über eine längere Zeit immer mal wieder in dem Heim fotografieren würde.
Das Haus ist zweigeteilt: Es gibt Notunterkünfte, wo Obdachlose nachts schlafen können, tagsüber müssen sie diese verlassen. Und es gibt kleine Wohnungen, wo Menschen, die mit dem Leben draußen gar nicht mehr klarkommen, dauerhaft Unterschlupf finden. Sie wohnen in Zweier- oder Dreier-WGs mit gemeinsamen Waschräumen. Das Ganze hat etwas Ambivalentes: Zum einen gibt der Ort den Bewohnern Sicherheit – es ist ein Mikrokosmos, in dem sie sich geschützt fühlen. Zum anderen kommt jemand, der dort wohnt, da eigentlich nicht mehr raus. Das Wohnheim stigmatisiert auch.
Bei der Reportage-Fotografie gibt es die Vorstellung, dass man so lange an einem Ort sein sollte, bis die Anwesenden einen vergessen und sich möglichst ungezwungen verhalten. Mein Ansatz ist ein anderer: Ich glaube, dass man seine Anwesenheit als Fotograf nicht verleugnen sollte. Dadurch, dass ich da bin, verändere ich die Situation, die Menschen interagieren mit mir. Das sollte man auch thematisieren. Für die Bilder in dem Obdachlosenheim habe ich lange Gespräche geführt, die Menschen ihre Geschichten erzählen lassen – manchmal haben wir nur einen Kaffee zusammen getrunken und ich bin wieder gegangen, ohne ein Foto zu machen. Oft ergab sich aus der Gesprächssituation heraus aber auch ein Motiv, die Hausbewohner forderten mich auf: Mach doch mal ein Bild – von der Einrichtung, von Bildern an der Wand, einer Hand mit einem fehlenden Finger.
So entstanden nach und nach Bilder, in denen die Gesichter der Menschen meist verdeckt sind. Ich hatte zunächst auch Bilder gemacht, die die Gesichter zeigten. Das wirkte aber zu sehr wie Sozialreportage-Fotografie, von der ich weg wollte. Deshalb sortierte ich diese Bilder fast alle aus. Wenn man die Gesichter nicht sieht, achtet man beim Betrachten mehr auf das Drumherum. Das wollte ich. Mir ging es darum, die Stimmung in diesem Haus einzufangen – wie es sich anfühlt, dort zu leben.
Die Bewohner des Heimes sind sich ihrer eigenen Lage sehr bewusst – sie wissen, wo sie sind und auch, warum sie dort sind. Und sie können über sich selbst lachen. Dieser Humor hat manchmal etwas sehr Rustikales, es sind oft derbe Späße. Wenn man genau hinschaut, erkennt man aber auch in Situationen, die zunächst lustig wirken, eine gewisse Schwere.
Die Serie heißt nun „Zwei Bier für Haiti“ – nach einer Spendenaktion, die die Heimbewohner nach dem großen Erdbeben gestartet hatten. Margitta, die im Heim lebt, sagte damals, dass es den Bewohnern gegenüber den Menschen in Haiti „doch Gold geht“. Jeder sollte auf zwei Bier verzichten, um mindestens einen Euro zu spenden. Am Ende kamen so 15 Euro zusammen. Nicht viel, aber immerhin.
Protokoll: Jan Pfaff
Nathalie Mohadjer lebt als Fotografin in Paris. Ihre Bilder werden im Winter in der Kunsthalle Harry Graf Kessler in Weimar ausgestellt. Mehr Infos unter: nathaliemohadjer.com
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