Kanadische Einwanderungspolitik als Vorbild?

Chauvinismus als makabere Grundlage für die unterschiedliche Bewertung von Leben nach der subjektiven Bewertung seines Nutzens.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Die kanadische Einwanderungspolitik ist ein gern gewähltes Schlagwort, wenn es um die Beschränkung der Zuwanderung von Menschen in einen Staat geht.
Über die Praxis in Kanada kann ich mir selbstverständlich kein Urteil erlauben, die Situation in Kanada als Staat mit der weltweit größten Einwanderungsrate ist eine völlig andere, als die von Deutschland mit einer im Vergleich sehr geringen Rate an Einwander*innen.

Da ich nicht Teil der kanadischen Gesellschaft bin und mich nicht sehr in der Geschichte von Kanada auskenne, wäre ein Urteil über die innovativen kanadischen Ansätze zur Einwanderungspolitik meinerseits anmaßend. Wohl aber kann ich mich mit dem Vorschlag auseinandersetzen, diese Überlegungen für unsere Gesellschaft zu übernehmen.

Prinzipiell hat das kanadische Einwanderungssystem das Grundanliegen ein Menschenleben nach seiner Wirtschaftlichkeit zu bewerten.
Für jedes Individuum, das in die Gesellschaft einwandern möchte, werden nach einem bestimmten Schlüssel Punkte vergeben. Nach Art des aktuellen Bildungsstandes, Berufserfahrungen, Sprachkenntnisse in Englisch und Französisch, Alter, für Verwandte und frühere Aufenthalte in Kanada wird in Kanada eine Person in ihrem subjektiven Nutzen für die Gesellschaft klassifiziert.

Wie das genau für Deutschland umgesetzt werden würde, ist nicht ganz klar, gerade die Sprachkenntnisse wären wahrscheinlich etwas komplizierter umzusetzen, da Deutschland bekanntlich nur über eine Amtssprache verfügt (nach denen sich die Bewertung der Sprachkenntnisse in Kanada orientiert) und die Deutsche Sprache (anders als Englisch oder Französisch) nur einen vergleichsweise geringen Kreis an Adressat*innen eröffnet, was nach wirtschaftlichen Interessen nicht gerade von Vorteil wäre. Englisch wiederum ist zwar wirtschaftlich interessant, allerdings unter anderem nach Türkisch eher unpopuläre Verkehrssprache in Deutschland. Diese sprachliche Problematik ist zwar ein Punkt, der einem wahrscheinlich sofort als Differenz ins Auge fällt, doch nur eine Kleinigkeit im Kontext der Grundintention darstellt.

Wenn wir uns dieses Konzept nun zu Gemüte führen, fallen uns sicherlich zwei moralische Probleme auf:

  1. Der Nutzen eines Menschens für die Gesellschaft wird nach seiner Wirtschaftlichkeit bewertet. Eine Frage, die wir uns also für eine moralische Überlegung stellen müssten, wäre die Frage: wenn es technisch möglich wäre, würden wir andere Individuen, die in unsere Gesellschaft stoßen würden, auch ihren Nutzen für die Gesellschaft absprechen. Bedeutet, wenn wir ein Kind pränatal auf seine Wirtschaftlichkeit untersuchen könnten, müssten wir unwirtschaftliche Lebewesen, wenn wir diesen Gedanken zu Ende denken, die Eingliederung in die Gesellschaft verweigern. Es wäre die Konsequenz der Überlegung den Nutzen eines Individuums für die Gesellschaft nach seiner Wirtschaftlichkeit zu bewerten.
    Ganz Abstrakt ist diese Vorstellung übrigens nicht, natürlich müssten sich die Fürsprecher*innen schon mit den heutigen technischen Möglichkeiten mit dem wirtschaftlichen Wert (den von diesem Personenkreis scheinbar als absoluter Wert eines Individuums definiert) von Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen (juristischer Begriff) auseinandersetzen, die Teil der Gesellschaft werden wollen oder sollen.
    Wenn der oder die Befürworter*in der Einwanderungspolitik nach kanadischem Vorbild diesen Schluss anders zieht, dann kommen wir zu dem zweiten Problem.
  2. Wenn Punkt eins nicht als Ergebnis gilt, müssen wir davon ausgehen, dass noch eine zweite Überlegung hinzukommt, eine zusätzliche nationalistische oder rassistische Differenzierung des Lebens. In diesem Fall wäre ein deutsches Individuum auch mit schlechter wirtschaftlicher Bewertung immer noch mehr von Nutzen für die Gesellschaft, als ein Zuwandernder mit mittlerer wirtschaftlicher Bewertung.

Natürlich gibt es auch die Möglichkeit einzugestehen, dass es moralische Bedenken gibt, aber die wirtschaftlichen Argumente höher als die moralischen Argumente zu werten. Dies ist ein legitimer Einwand, doch an dieser Stelle ein kleines Gedankenspiel, dass diesen Konflikt zwischen Wirtschaftlichkeit und Moral veranschaulichen soll.

Stellen wir uns vor, dir wird angeboten für einen Geldbetrag einen Menschen zu töten. Es könnte eine abstrakte Situation sein, in der der Druck auf einen Knopf einen Menschen töten würde, es würde also nicht einmal einen Zeitverlust für dich bedeuten. Dir würde versichert werden, dass der Tod des Menschen keinerlei Konsequenzen für dich hätte und du würdest daran glauben.
Würdest du es tun? Wenn ja, was wäre dein Preis für diese Tat? Gäbe es einen minimalen Preis für dich?

Schon die Überlegung eines minimalen Preises für die Handlung, wäre Anzeichen für eine moralische Überlegung, da die handelnde Person keinerlei Nachteil oder (relevanten) Aufwand durch ihre Handlung hätte.
Jeder oder jede, die für einen möglichst niedrigen Betrag (Preisverhandlungen ausgeschlossen) sofort den Knopf gedrückt hätte, kann frei von sich behaupten in Diskussionen, wirtschaftliche Argumente über moralische Argumente zu stellen. Jede Person, die den Knopf nie oder nur für einen sehr hohen Preis drücken würde, sollte noch einmal bedenken, ob die Moral nicht auch für sie eine große Kontrollinstanz ist und eine so offensichtliche rein egoistische Handlung zum Schaden von anderen Individuen wirklich in ihrem Interesse wäre.

Jeder und jede kann in eine Situation kommen, in dem er oder sie von den Entscheidungen anderer Personen abhängt.
Hoffen wir, dass diese Person nicht das Geld für das Drücken des Knopfes nimmt, wenn wir selbst davon betroffen wären.
Moralische Überlegung ist kein 'emotionales Gewäsch', sondern die rationale Basis eines Zusammenlebens sozialer Individuen.

Aus meinem Blog: www.nilsberliner.de

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

NilsBerliner

Masterstudent der "Geschichte und Kultur der Wissenschaft und Technik" an der TU Berlin.

NilsBerliner

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden