Ein Ort mit Symbolwert

Kaukasus-Krieg Die Stadt Schuschi in Bergkarabach ist ihrer Geschichte und Bedeutung wegen besonders umkämpft
Ausgabe 46/2020

In der Kirche suchten wir Schutz. Wir dachten, dass nicht einmal Aserbaidschan eine Kirche bombardieren würde.“ In Aljona Markarjans Stimme schwingt noch immer ungläubiges Entsetzen mit, als die 38-Jährige erzählt, wie zwei Raketen in die historische Ghasantschezoz-Kathedrale von Schuschi, auch bekannt als Kathedrale Christi des Heiligen Retters, einschlugen. Es handelt sich um ein armenisches Gotteshaus aus dem 19. Jahrhundert in der Region Bergkarabach, das zwischen 1868 und 1887 durch den Architekt Simon Ter-Hakobyan mit einer Fassade aus weißem Kalkstein erbaut wurde. Aljona sitzt mit zwei kleinen Kindern und dem alten Vater in ihrer Wohnung, die an einer Straßen in Rufweite der Kirche liegt. Die zweite Rakete sei an der gleichen Stelle eingeschlagen wie die erste. „Rettungskräfte holten uns gerade aus dem Schutzraum, als das zweite Geschoss traf“, berichtet sie. „Drei russische Journalisten hielten sich zu diesem Zeitpunkt dort auf und wurden verletzt. Ihnen musste dringend erste Hilfe geleistet werden.“

Nicht verhandelbar

Der Ort Schuschi – wie ihn die Armenier nennen, die Aserbaidschaner aber Schuscha – liegt auf einem Hochplateau, von dem aus Bergkarabachs Hauptstadt Stepanakert überblickt werden kann. Obwohl die Kleinstadt – sie zählt etwas mehr als 4.000 Einwohner – bis auf ihre erhöhte Lage keinen wesentlichen strategischen Wert hat, ist sie seit Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan hart umkämpft. Die aserbaidschanische Offensive hinterließ Wirkung, verursachte viel Zerstörung und Leid. „Ohne die Befreiung von Schuscha ist unsere Mission nur halb vollendet“, hörte man von Staatschef Ilham Alijew in Baku, der inzwischen bekanntgab, große Teile der Stadt seien erobert, was die armenische Führung umgehend dementierte. Der zu Wochenbeginn unter Vermittlung Russlands geschlossene Waffenstillstand legt fest, dass die Truppen beider Seiten in ihren letzten Stellungen verbleiben. In einer Pufferzone entlang der Fronten übernehmen russische Soldaten die Kontrolle der Feuerpause.

Vor etwas mehr als einem Jahrhundert war Schuschi das kosmopolitische Zentrum der Region Karabach. Laut einer Volkszählung durch die Administration des russischen Zaren lebten 1916 etwa 43.000 Menschen in der Stadt, etwas mehr als die Hälfte davon Armenier. Es gab eine russisch-orthodoxe und fünf armenisch-gregorianische Kirchen, dazu zwei schiitische Moscheen, Sehnsuchtsorte der aserbaidschanischen Minderheit.

Foto: Imago Images/ZUMA Wire

Damals erlebte die Stadt eine Blütezeit. Doch als Zar Nikolaus II. im März 1917 abdanken musste, war es damit vorbei. Im Südkaukasus kam es zum Krieg zwischen der kurzlebigen Demokratischen Republik Armenien und der Demokratischen Republik Aserbaidschan. In Schuschi führte der Konflikt 1920 zu einem Pogrom in den armenischen Vierteln, aus denen vertrieben wurde, wer das Massaker überlebte. Von seiner Bevölkerungszahl her stark dezimiert, erlebte Schuschi die Sowjetzeit als Stadt mit muslimischer Mehrheit. Als dann 1991 wegen des Streits um Bergkarabach erneut ein Krieg ausbrach, diente Schuscha Aserbaidschan als wichtiger Stützpunkt, allerdings nur bis 1992, als armenische Streitkräfte den Ort eroberten. Aserbaidschan empfand diesen Verlust als den schwersten und schrecklichsten der bis Mai 1994 dauernden militärischen Konfrontation. Der Fall von Schuscha beendete die kurze Amtszeit des Präsidenten Yagub Mammadow, der sich im Parlament von Baku eines Sturms der Entrüstung zu erwehren hatte.

Die mythische Aura der Stadt kam für Aserbaidschan durch den Verlust mit besonderem Nachdruck zu Bewusstsein. „Schuschi oder eben Schuscha ist für einen Aserbaidschaner so sakral wie Sankt Petersburg für einen Russen“, erklärt Nazrin Gadimowa-Akbulut, Altertumsforscherin am Zentrum für internationale und europäische Studien in Istanbul. „Sie war die kulturelle Heimstatt hunderter aserbaidschanischer Musiker, Künstler, Dichter und Intellektueller. Vieles, was unzertrennlich mit der aserbaidschanischen Kultur und Identität verbunden ist, hat seinen Ursprung in dieser Gegend von Bergkarabach.“ Diese Zuschreibung geht unter anderem auf Mugham zurück, eine traditionelle Form aserbaidschanischer Folkmusik, aber auch auf Persönlichkeiten wie den Komponisten und Theaterautor Uzejir Hajibejow. „Die Intellektuellen in Schuscha leisteten einen großen Beitrag zum aserbaidschanischen Revival im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert“, meint Gadimowa-Akbulut.

Foto: Karen Minasyan/AFP/Getty Images

Dass Schuschi von drei Seiten her durch hohe Klippen geschützt und dadurch fast uneinnehmbar ist, erhob die Eroberung der Stadt durch armenische Verbände vor 28 Jahren zu einem legendären Coup. Der pensionierte Soldat Armen erinnert sich noch gut daran. „Die Männer von Arkady Tadewosjan, dem Kommandeur der Operation, erklommen die Felswände, während wir anderen von verschiedenen Seiten aus angriffen“, erzählt der 57-Jährige. Das sei für ihn „der krönende Moment“ seines Lebens gewesen.

Ein weitere Legende in Verbindung mit diesem Ort rankt sich um den berüchtigten tschetschenischen Kommandeur, islamistischen Terroristen und Rebellenführer Schamil Bassajew (1965 – 2006), der 2004 für die Geiselnahme von über tausend Menschen an einer Schule in der nordossetischen Stadt Beslan verantwortlich war. Bei der weitgehend missglückten Befreiung der Geiseln durch russische Sicherheitskräfte kamen 331 Menschen ums Leben, 180 davon Schüler. Bassajew und seine tschetschenische Brigade gehörten zur Gruppe von externen Kombattanten, die im ersten Kaukasus-Krieg auf aserbaidschanischer Seite kämpften. Das Operationsgebiet Bassajews lag in Schuschi und Umgebung. Eines Morgens, so wird erzählt, sei Bassajew aufgewacht und habe erkannt, dass armenische Soldaten nachts über die Felsen geklettert und in die Stadt eingedrungen waren. Zum Rückzug gezwungen, erklärte er, das sei für ihn das Ende in Bergkarabach, denn „wenn Aserbaidschaner eine Stellung wie diese verlieren, haben sie keine Chance.“ Ob diese Geschichte wahr ist, lässt sich nicht endgültig klären. Tatsächlich zogen sich Bassajew und seine Männer kurz nach dem Fall Schuschas aus dem Konflikt zurück, um bald danach bei den Sezessionskämpfen in Abchasien wieder aufzutauchen.

Foto: Karen Minasyan/AFP/Getty Images

Seit den frühen 1990er-Jahren ist die Stadt nur noch ein Schatten ihrer selbst, der Ruhm von einst verschollen, was nichts daran ändert, dass der Ort für armenische Behörden wie die Bevölkerung ein symbolträchtiges Refugium ist. Im Juli erst fand in Schuschi die Inauguration von Arajik Harutjunjan statt, des gewählten Präsidenten der international nicht anerkannten Republik Arzach, wie sich die Region Bergkarabach selbst nennt. Und am 19. September, nur eine Woche vor dem Ausbruch der neuerlichen Kampfhandlungen, kündigte Harutjunjans Regierung an, das Parlament von Arzach nach Schuschi verlegen zu wollen.

Verschollener Ruhm

Darauf reagierte in Aserbaidschan Präsident Alijew noch am gleichen Tag empört: „Das ist eine offene Beleidigung! Glauben Sie etwa, dass wir uns das gefallen lassen?“ Wie heute bekannt ist, waren die Vorbereitungen für einen Schlagabtausch zu diesem Zeitpunkt bereits im Gange. Der aserbaidschanischen Gesellschaft musste Alijew diese Beurteilung der Lage nicht aufzwingen. Der Slogan „Yolumz Susayadir“ (Auf nach Schuscha!) war unter den Militärs schon immer ein verbreiteter Refrain für die ersehnte Wiedereroberung der Stadt – in diesem Krieg ist er seit Wochen allgegenwärtig.

Die am wenigsten verhandelbare der aserbaidschanischen Forderungen ist die nach Rückgabe der „sieben besetzten Distrikte“ um das Kerngebiet von Karabach herum (entsprechend der früheren autonomen Region Bergkarabach). Aber es scheint offensichtlich, dass auch ein Sonderstatus für Schuschi bzw. Schuscha Teil einer möglichen Einigung sein müsste. Denn Aserbaidschan „betrachtet die Befreiung des Ortes als wichtiges Ziel und größten möglichen Sieg in diesem Krieg“, so Gadimowa-Akbulut.

Für die derzeitigen Einwohner der Stadt wie den früheren Soldaten Arutjunjan ist die Vorstellung, Seite an Seite mit Aserbaidschanern zu leben, im besten Falle wenig erstrebenswert. „Schauen Sie, wie sie diese Stadt zerstören“, deutet er auf den Teil einer Rakete, der im Boden steckt. „Wie können diese Leute meine Nachbarn sein?“

Neil Hauer ist ein kanadischer Reporter, der sich während der vergangenen Wochen im Kriegsgebiet aufgehalten hat

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Übersetzung: Carola Torti

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