Alte Verkannte und andere Textsachen. "Paragramme" in der edition ch

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http://home.pages.at/read/bilder/paragramme.jpgEigentlich sind sie alte Bekannte und ein gern gesehenes Atout in jeder gepflegten Partyunterhaltung und beim eleganten Smalltalk. Einige von ihnen sind sogar alte Freunde aus längst vergangenen Schulzeiten. Der "Sanitöter" oder die "Lach und Schießgesellschaft" schauen immer wieder gerne vorbei und prinzipiell sangen wir schon im Englischunterricht laut und mit Begeisterung "God Shave the Queen". Doch eigentlich ist das Paragramm - so nennt sich dieser alte Bekannte - noch viel älter als unsere Schulzeit. Bereits im Talmud soll sich das eine oder andere Paragramm verstecken. Der allseits beliebte DUDEN definiert "Paragramm" wie folgt: "Änderung von Buchstaben in einem Wort oder Namen, wodurch ein scherzhaft-komischer Sinn entstehen kann (z. B. Biberius [= Trunkenbold, von lateinisch bibere = trinken] statt Tiberius)" . Pierers Universal Lexikon aus dem Jahre 1861 (nach www.zeno.org) bietet eine etwas genauere Definition: "Paragramm (gr.), 1) etwas daneben Geschriebenes, ein Zusatz, Einschiebung; 2) das Schreiben eines Buchstabens od. Wortes statt eines anderen, im Scherz od. spottweise, im Witzspiel, z.B. Caldius Biberius Mero statt Claudius Tiberius Nero; 3) das Verändern od. Verfälschen eines Buchstaben, einer Schrift, eine eingeschobene Stelle in einem alten Klassiker; 4) das Zeichen (=), daß etwas einzuschieben ist; 5) die kabbalistische Berechnung des geheimen Sinnes eines Wortes od. Satzes, nachdem jedem Buchstaben die Bedeutung einer Zahl unterlegt ist." Nebenbei bemerkt ist dieser Eintrag über 150 Jahre alt und erfreut sich nach wie vor bester Aktualität.

Dieser reizende Reigen an Definitionen macht Lust auf mehr und vor allem auf spannendere Paragramme, als die von mir an,- und abgeführten abgedroschenen Einleitungsbeispiele. Günter Vallaster, dessen edition ch sich gerne experimenteller literarischer Themen annimmt, zeichnet für einen besonders schönen Band, der exklusiv der Thematik "Paragramme" gewidmet ist, verantwortlich. Gleich drei Einleitungen geben den geneigten Leser*innen Orientierung. Einerseits gibt Günter Vallaster einen allgemeinen Überblick über das Thema und die Publikation. Dieses Vorwort sollte zuerst gelesen werden. Es gibt einen wirklich guten Einblick in die Thematik. Peter Marwitz führt als zweiter Beiträger in die Bezüge zwischen Paragrammen, Adbusting und Culture Jamming. Dabei handelt es sich um Techniken, die kreativ auf Werbung reagieren, diese verfremden und somit ironisieren. Leider sind die Ausführungen von Peter Marwitz etwas kurz geraten, was eigentlich schade ist. Um Ihnen zu verdeutlichen was Marwitz unter Adbusting versteht, möchte ich an dieser Stelle ein Beispiel anführen: die österreichische Handelskette BILLA. Eine Zeit lang benutzte die REWE-Gruppe den Spruch "BILLA heute – denkt an morgen". Ein Anagramm von BILLA in Form von "LABIL heute – denk an morgen" geisterte auf T-Shirts und anderen Trägern herum. Sowohl in seinem Beitrag als auch in der Einführung bezieht Günter Vallaster das Thema verstärkt ein. Er schlägt sogar einen Bogen zu Kalle Lasn, dem Chef des Magazin "Adbusters" und Vater der #Occupy Wallstreet-Bewegung. Durch diesen Hinweis verlieh Günter Vallaster der Publikation nicht nur eine tagespolitische Aktualität, er zeigte vielmehr, wie sehr experimentelle,- und subkulturelle Formen der Literatur mit modernem politischem Protest verbunden sind. Als dritter Prologist erzählt Robert Krokowski über seine Erfahrungen mit 20 Jahren Paragrammen.

Ein breites Spektrum an Autor*innen
Die Liste der beitragenden Autor*innen ist Freund*innen der "edition ch" und der Wiener Literaturszene durchaus bekannt. Beiträger*innen aus dem Umfeld des "Fröhlichen Wohnzimmers" (Kilic und Widhalm) und etliche internationalen Beiträger*innen komplettieren die Anthologie. Viele Paragramme wurden eigens für das Buch geschrieben. Für die österreichische Literaturszene ist das Gedicht von Gerhard Rühm natürlich besonders interessant. Durch seinen Beitrag schlägt die Publikation einen direkten Bezug zur Wiener Gruppe und zur konkreten Poesie (Peter Huckauf widmet seinen Beitrag Oskar Pastior, womit ein weiterer Doyen der experimentellen Lyrik gewürdigt wird). Auch die Arbeiten von Armin Baumgartner und Christoph Bruckner haben einen starken Österreichbezug. Ohne Kenntnisse diverser Originale sind die Verfremdungen und Paragramme nicht immer zu entschlüsseln. Oder wissen sie was hinter der "Lügnercity" steht? Allerdings gehören etliche der Bruckner'schen Paragramme fast schon der Allgemeinsprache an. "Whitney Husten" und "Ente gut, alles gut" waren nicht nur mir bekannt. Allerdings zeigt dies auch, wie Paragramme teilweise mit der mündlichen, informellen Sprache verbunden sind. Auch wenn die meisten Autor*innen vordergründig die Struktur einer kurzen Erzählung oder eines Gedichtes bewahren, wagen einige doch den Sprung in eher grafische und konkrete Gestaltungsmöglichkeiten. Robert Krokowski zeigt 25 Jahre alte Paragramme in Form von Fotografien. Und "United Queendoms" präsentiert eine Arbeit, die die Grenzen zwischen Comic, Fotoroman und Paragramm sehr stark ins Fließen bringt. Das Buch aus dem Hause "edition ch" ist eine schöne Melange. Mal tiefsinnig, mal witzig, mal sehr direkt, mal eher hermetisch. Günter Vallasters Verdienst als Herausgeber ist es, eine Textsorte, die in ihrer Alltäglichkeit fast schon so unbeachtet ist, dass sie allzu leicht ignoriert wird, in eine Sammlung zwischen zwei Buchdeckel gepresst zu haben. Die Paragramme werden es ihm danken.

Paragramme. Ein Sammelband. Hrgb. Günter Vallaster. edition ch Wien, 2011

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Geschrieben von

Neil Y. Tresher

Alle Angaben zu meiner Person sind Hörensagen mit Gewehr - äähm ohne Gewähr.

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