Gemischte Gefühle in Kirchstetten

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Kirchstetten in Niederösterreich. Eine österreichische Irrealität. Der kleine Ort westlich von Wien beherbergte im 20. Jahrhundert zwei Autoren, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Auf der einen Seite W.H. Auden, der auch noch heute, sowohl in Großbritannien als auch in den USA, als einer der wichtigsten Lyriker des 20. Jahrhunderts gilt. Auf der anderen Seite Josef Weinheber, das umstrittene und streitbare österreichische Schwergewicht, dessen Erbe auch heute für etliche Leserinnen und Leser einen bitteren Beigeschmack hinterlässt. Die Marktgemeinde Kirchstetten pflegt das Erbe beider Autoren, auf unterschiedliche Art und Weise und bezeichnet sich selbstredend als „Dichtergemeinde.“ Bekannt ist die Gemeinde vor allem auch ob Roland Düringers „Hinterholz 8“. Übrigens wohnte Auden auf „Hinterholz 6“. Den Ruf als Dichtergemeinde pflegt ebenfalls der Kulturstammtisch Kirchstetten, der seit 20 Jahren existiert. Der erste Kulturstammtisch fand bereits im November 1991 statt; die Leiterin (Obfrau) und Gründerin des Vereins ist Helga Panagl. Um das 20. Jubiläum zu begehen wurde unter dem Titel „Gemischte Gefühle“ eine Anthologie mit Gedichten herausgegeben. Helga Panagl zeichnet als Herausgeberin der Publikation verantwortlich. Die Präsentation des 155 Seiten starken Bandes findet/fand im Rahmen des 163. Kulturstammtischs am 28. Oktober 2011 auf Schloss Totzenbach mit Gerhard Jonas statt.

Der Kulturstammtisch sieht seine Aufgabe vor allem darin, nicht nur den erwähnten verblichenen Dichtern zu huldigen, sondern vor allem lebende Autorinnen und Autoren aus Niederösterreich zu Wort kommen zu lassen. Jeweils am letzten Freitag des Monats organisiert der Verein, der an die 100 Mitglieder verzeichnen dürfte, eine Lesung mit Musik. Autorinnen und Autoren, die zum Kulturstammtisch eingeladen wurden, erscheinen nun auch in der Anthologie auf.

Der Einband von „Gemischte Gefühle“ bricht mit allen Konventionen. Er ist grell, pink und erinnert an Tankstellen-Geschenkpapier oder die besonders unauffälligen Sackerln diverser Shops, deren Einkäufe möglichst diskret bleiben sollen. Der Aufbau des Bandes ist nicht uninteressant. W. H. Auden eröffnet den Reigen und steht in Original und Übersetzung am Anfang. Der „Funeral Blues“ - jenes Gedicht, dem die britische Kommödie „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ zu spätem Weltruhm verhalf - darf nicht fehlen. Es folgen Autor*innen, die beim Kulturstammtisch auftraten. Neben Weinheber und Auden sticht Kennerinnen und Kennern der österreichischen Literaturgeschichte noch ein dritter Name sofort ins Auge: Theodor Kramer. Der neben Erich Fried wohl wichtigste Exillyriker Theodor Kramer stammt selbst aus dem eine gute Autostunde von Kirchstetten entfernten Niederhollabrunn. Ihm wurde der 70. Kulturstammtisch in Kirchstetten gewidmet. Durch die alphabetische Anordnung der Autorinnen und Autoren kommt W.H. Auden zwar die verspätete Ehre zu Teil diese Anthologie zu eröffnen, dennoch sorgt sie für Gleichberechtigung unter den bekannten und weniger bekannten Autorinnen und Autoren. In der Publikation scheint so z.B. auch Ernst Ferstl auf. Der Autor aus Krumbach in NÖ ist bekannt für seine Aphorismen und regelmäßige Userinnen und User diverser Aphorismus-Plattformen im Internet sind mit diesem Autor bestens vertraut. Seine Gedichte haben jedoch bisweilen etwas Aphoristisches oder Sinnsprüchliches. Ebenfalls erwähnen möchte ich Peter Miniböck. Die in „Gemischte Gefühle“ präsentierten Gedichte bilden einen verdichteten Querschnitt durch das Werk des Autors. Die ersten Gedichte entstanden vor über 20 Jahren und stammen aus „Anleitungen zum Verirren“. Sie zeigen einen - wie es 1991 Ludwig Börner im „Podium“ schrieb - einen „aufgeweckten Zeitgenossen, der sich in seinen oft sehr kurzen provokanten Gedichten an den Widersprüchlichkeiten unserer Zeit reibt.“ Die frühen Gedichte bestehen aus freien Versen, sind kurz und lakonisch. Die späteren Gedichte führen uns ins Jahr 2009 zu Peter Miniböcks "Mutwillige Sommervögel“, die ebenfalls in der Buchreihe des „Kirchstettner Kulturstammtischs“ veröffentlicht wurden. Die Leserinnen und Leser können bereits in den wenigen präsentierten Gedichten die Veränderung des Autors beobachten. Peter Miniböcks Entwicklung als Lyriker scheint umgekehrt. Zunächst lakonisch und konkret. Später sprachlich ausschweifender und transzendenter. Die Frage „Was ist ES?“ zieht sich wie ein roter Faden durch die späteren Texte. Die hier präsentierten frühen Gedichte sind daher eher Kommentar als existenzielle Frage. Auch stilistisch drängen im aktuellen Werk Infinitivkonstruktionen in den Vordergrund und das (grammatische) Subjekt in den Hintergrund.

Der zweite Teil der Anthologie ist der Mundartdichtung gewidmet. Diese Aufteilung gereicht der Publikation zum Vorteil. Die im ersten Teil der Anthologie präsentierte Lyrik ist sowieso schon heterogen genug. Das liegt nicht nur am Nebeneinander von namhaften „Superstars der Lyrik“ und „local heroes“, sondern auch an der thematischen und formalen Vielfalt. Brave und gediegene gebundene Formen wechseln mit bisweilen sehr freien Versen. Für Freunde von unterschiedlichster Lyrik und Formensprache ist die Anthologie ein Schatz und eine Abwechslung in einer Zeit in der das schnelle Bonmot und die billige Pointe wichtiger sind als die Arbeit am Text und am Gedanken. Aber vielleicht ist Lyrik wirklich eine Sache der älteren Generation. Die Auswahl der präsentierten Autorinnen und Autoren könnte in diese Richtung deuten.

Helga Panagl (Hrgbin)

Gemischte Gefühle

Anthologie

Verlag Kulturstammtisch Kirchstätten

155 Seiten

ISBN: 3-902263-14-8

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Neil Y. Tresher

Alle Angaben zu meiner Person sind Hörensagen mit Gewehr - äähm ohne Gewähr.

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