Wahlkampf auf dem Rücken der Arbeitslosen

Wahlkampfrhetorik Die österreichische Arbeitsmarktpolitik steht im Fokus der politischen Diskussion. Dabei schielt man sehr nach Deutschland und auf Hartz IV. Eine Chronologie.

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Die österreichischen Arbeitsmarktdaten werden an jedem 1. des Monats veröffentlicht. Da die Zahlen schlecht sind, geben sie Anlass für politisches Hickhack in verteilten Rollen. Die Aufgabe der politischen Oppositionsparteien besteht darin, der Regierung in Sachen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik Inkompetenz vorzuwerfen. Die Regierung verteidigt natürlich ihre Politik und/oder kündigt neue Maßnahmen an. Soweit, so bekannt. Das Spiel erinnert an ein ewiges Fußballmatch zwischen dem Tabellenführer und dem Abstiegskandidaten, samt Schmährufen, Fouls unde den ensprechenden Emotionen. Am Ende kommt ein mageres 0:0 heraus und der Frust sitzt tief. Die Parteien führen dieses Match jedoch exklusiv auf dem Spielfeld der Presseaussendungen.

Meist greift die Opposition den Regierungsgegner mit zwei, drei g'schmackigen Presseaussendungen frontal an .Die Regierung erwidert geht zum Gegenangriff über oder hält den Ball in den eigenen Reihen. Egal wie die Reaktion ausfällt. Ein neuer Angriff mit einem neuen Thema muss her. Der Juli 2015 hat diesbezüglich eine andere Qualität. Wäre da nicht die Griechenlandkrise gewesen, der Juli 2015 stünde zur Gänze im Zeichen der Arbeitslosendebatten und des Wahlkampfes.

Eröffnet wurde das Match, wie gesagt, durch die Arbeitsmarktzahlen, die - wie nicht anders zu erwarten - eine weitere Verschlechterung aufzeigten. Besonders Wien steht - nicht zuletzt aufgrund seiner besonderen Situation - sehr schlecht dar. Das Match in Wien entwickelte eine interessante Dynamik. Der Spielverlauf kann wie folgt zusammen gefasst werden. Die ÖVP Wien bevorzugt nach einigen Frontalangriffen das Spiel in die Breite und will in der Bundeshauptstadt 25.000 Jobs schaffen, irgendwie steht ein verschobener Arbeitsmarktgipfel zur Debatte und der Bundesrat - die große Unbekannte der österreichischen Politik - greift ebenfalls ins Spiel ein. Für das Foul der Runde sorgte dann ÖVP-Finanzminister Hans Jörg Schelling, der die Vorzüge von Hartz IV lobte und die Zumutbarkeitsbestimmungen für Arbeitssuchende weiter verschärfen wollte.

Wahkampf und Grexit

Aber alles der Reihe nach: Nach der Veröffentlichung der Arbeitslosenlosenzahlen am 01. Juli werden jene Stimmen laut, die sich auf die SPÖ/ÖVP-Regierung einschießen. Stellvertretend nur das Statement der NEOS: "Der Sozialminister ist mit der Situation sichtlich überfordert und hat im Kampf gegen Arbeitslosigkeit aufgegeben. Statt tatsächliche Impulse für den Arbeitsmarkt zu setzen, verharrt diese Regierung in ihrer Schockstarre", analysiert der Sozialsprecher von NEOS, Gerald Loacker (....)" (OTS0034, 1. Juli 2015, 09:29: Parlamentsclub der NEOS). "Das Privileg" den Sozialminister niederzugrätschen, macht normalerweise die FPÖ für sich geltend: "Österreich braucht nach diesen neuesten Arbeitslosenzahlen mit der schlimmen Lage bei den Langzeitarbeitslosen und der extrem hohen Arbeitslosigkeit bei den Ausländern endlich eine langfristige strategische Ausrichtung der Beschäftigungspolitik, um der nach wie vor steigenden Arbeitslosigkeit endlich Herr werden zu können. Der Sozialminister lässt dazu aber nur Plattitüden vom Stapel und verweist auch heute wieder nur auf positive Impulse durch die Steuerreform und das Wohnbaupaket." (OTS0045, 1. Juli 2015, 09:44, Freiheitlicher Parlamentsklub). Es ist natürlich unbestritten, das SPÖ-Minister Hundstorfer der verantwortliche Minister ist - und man von ihm die Vorgabe der Themen und der Lösungen erwartet.

Interessant in den Ausführungen der FPÖ ist jedoch die Tatsache, dass man sich in Sachen Arbeitsmarktpolitik exklusiv auf den Sozialminister einschießt, obwohl auch Mitglieder der "Vereinigung der Österreichischen Industrie" (Kurzform: Industriellenvereinigung) im Verwaltungsrat des Arbeitsmarktservices sitzen. Die "IV", wie die Industriellenvereinigung auch genannt wird, verfügt im Gegensatz zu den Mitgliedern der Sozialpartnerschaft, über keinen legistischen Charakter. Trotzdem gehört sie zu den wichtigen politischen Mitspielern des Landes. Alleine die Tatsache, dass Mitglieder der IV im Verwaltungsrat des Arbeitsmarktservices sitzen - noch einmal die IV hat keine legistische Funktion - ist mehr als erwähnenswert. Ihre Nähe zur ÖVP und auch teilweise zur FPÖ ist unbestritten.

Besagte Industriellenvereinigung wird nicht müde ihr Generalrezept für eine Senkung der Arbeitslosigkeit, das in der Senkung der Lohnnebenkosten besteht, überall zu betonen. Die Rede ist sogar von einer deutlichen Senkung der Lohnnebenkosten um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Natürlich wird auch eine weitere Aufweichung der Arbeitszeitenreglungen ins Auge gefasst (OTS0040, 1. Juli 2015, 09:39; IV News). Dies erinnert fatal den den Spruch: "Geht es der Wirtschaft gut, geht es uns allen gut!", der eigentlich lauten müsste: "Geht es der Wirtschaft gut, geht es es den Unternehmen gut."

Wann kommt der Arbeitsmarktgipfel?

Der von der FPÖ angesprochene Arbeitsmarktgipfel ging auf die Initiative von ÖVP-Wirtschaftsminister Mitterlehner zurück, der Anfang Mai 2015 nach einer derartigen Enquête rief. Außerdem betont der Minister die Wichtigkeit der arbeitsmarktnahen Qualifizierung, sprich der Ausbildung direkt in den Betrieben, eine Aussage, die vom Arbeitsmarktservice im Juli bestätigt wird. (OTS 0104, 1. Juli 2015, 10:58: AMS Wien, Paulick). Böse Geister könnten behaupten, dass wir es also mit kommunizierenden Gefäßen zu tun haben. Auch das Team Stronach - ja, die gibt es noch - lässt kein gutes Haar an der Bundesregierung: "Der Regierung fehlt der Masterplan im Kampf gegen die ständig steigende Zahl der Arbeitslosen", kommentiert Team Stronach Klubobfrau und Arbeitsmarktsprecherin Waltraud Dietrich den Anstieg der Arbeitslosenzahlen im Juni." (OTS0114, 1. Juli 2015, 11:13; Team Stronach Parlamentsklub). Die Wirtschaftskammer lässt durch ihren Chef, Christoph Leitl, ebenfalls das Lied von der Senkung von Lohnnebenkosten, von der arbeitsplatznahen Qualifizierung und der Flexibilisierung der Arbeitszeiten anstimmen. (OTS0116, 1. Juli 2015, 11:16: WKÖ, Haberson). Die Linie der ÖVP und der ihnen nahestehenden Organisationen und Verbände ist in Sachen Arbeitsmarktpolitik klar. Soviel muss man Ihnen lassen. Bei anderen politischen "Mitbewerber/innen" ist die Taktik auf dem Spielfeld Arbeitsmarkt deutlich weniger präzise umrissen.

In Wien befindet sich die ÖVP in der Opposition. Sie muss sich in der Bundeshauptstadt also weniger staatstragend geben. Da verwundert es nicht, dass der Chef der Wiener ÖVP, Juraczka, das Thema Arbeitslosigkeit aufgreift und meint, dass "die Entwicklung mehr als besorgniserregend sei." Er schließt die Presseaussendung wie folgt: "In rund 100 Tagen besteht die Möglichkeit für einen Neuanfang in dieser Stadt. Wien braucht einen Kurswechsel, Wien braucht den bürgerlichen Hausverstand, Wien braucht wieder wirtschaftspolitische Vernunft. Rot-Grün ist gescheitert, die Politik in dieser Stadt muss effizienter, professioneller und transparenter werden, dafür steht die ÖVP Wien", so Juraczka abschließend." (OTS0113, 1. Juli 2015, 11:11; ÖVP Klub der Bundeshauptstadt Wien). Wahlkampfrhetorik pur. Es ist für mich bemerkenswert, dass die FPÖ in Wien in das gleiche Horn stößt: "Das ist erschreckend! Die Stadtregierung scheint es nicht zu schaffen, endlich Rahmenbedingungen für die Schaffung von Arbeitsplätzen zu schaffen. Seelenruhig schaut man sich diese Zahlen offenbar an, ohne auch nur einen Finger zu rühren", kritisiert der Klubobmann der Wiener FPÖ, Mag. Johann Gudenus scharf." (OTS0141, 1. Juli 2015, 11:48: FPÖ Wien)

Arbeitsmarktpolitik der Wiener Stadtregierung wird scharf kritisiert

Auch die in Wien noch nicht im Stadtparlament sitzenden "NEOS" kritisieren die hohen Arbeitslosenzahlen in der Bundeshauptstadt und orten gleichzeitig ein Problem bei der Ausgabenpolitik der Stadt Wien. "Die Wienerinnen und Wiener haben Angst um ihren Job, um ihre berufliche und finanzielle Zukunft. Sie wollen Antworten, und sie wollen Taten sehen. Aber das einzige, was ihnen seitens der Stadt Wien geboten wird, sind Plakate und Inserate", kommentiert Beate Meinl-Reisinger, Spitzenkandidatin der NEOS Wien, die aktuellen Arbeitslosenzahlen." (OTS0234, 1. Juli 2015, 14:20; NEOS Wien; Herberth). Die SPÖ wehrt sich selbstredend gegen die Anschuldigungen und führt vor allem die Verdienste und die Ausgaben des WAFF (Wiener Arbeitnehmer/innen Förderungsfonds), der zahlreiche Umschulungen und Weiterbildungen mitfinanziert, auf der politischen Habenseite an.

All diese Meldungen stammen vom 01. Juli 2015. Aber damit ist es nicht genug. Die FPÖ legt insbesondere beim Thema "Arbeitsmarktgipfel" nach. Der im Mai von Reinhold Mitterlehner angekündigte Gipfel soll in den September verlegt werden. Nun... auch in Österreich drehen im Sommer die offiziellen Rädchen etwas langsamer und die Verschiebung ist Wasser auf die Mühlen der Opposition. Auch die NEOS schließen sich der Kritik an, ebenso wie das Team Stronach. Der größte Unterschied zwischen den Meldungen besteht darin, dass die FPÖ erneut die Gelegenheit nutzt, um den Sozialminister "in Manndeckung zu nehmen."

Auch wenn der Arbeitsmarktgipfel nicht im Sommer stattfindet, so setzt zumindest der Bundesrat die Themen auf die Agenda: "Mit Themen des Arbeitsmarkts sowie des freiwilligen Engagements der ÖsterreicherInnen befasste sich der Bundesrat im Sozialblock seiner heutigen Sitzung. Eine Änderung im Arbeitsmarktpolitik-Finanzierungsgesetz zur Aufstockung der Fördermittel für ältere Arbeitslose passierte den Bundesrat einhellig. Ebenso erhob er keinen Einwand gegen den Plan der Bundesregierung, die Meldepflichten an die Sozialversicherungen neu zu regeln, womit bürokratischer Aufwand gesenkt werden soll." Auch die sogenannte Freiwilligenarbeit ist ein Thema, das vornehmlich vom Sozialministerium voran getrieben wird. (OTS0268, 2. Juli 2015, 18:59: Pressedienst der Parlamentsdirektion). Ein schwieriges Thema, wenn man doch von der eigenen Erwerbsarbeit leben soll.

Einige Tage später legen die Oppositionsparteien auf Bundesebene nach. Diesmal steht die von den Regierungsparteien als großer Wurf gefeierte Steuerreform, die mehr "Netto vom Brutto" in die Geldbörsen der angestellten Arbeitnehmer/innen spülen soll, auf dem Prüfstand. Vor allem die NEOS und das Team Stronach sehen in der Steuerreform keine Anreize für die Wirtschaft mehr Jobs zu schaffen, während die FPÖ - Sie ahnen es bereits - sich wieder auf den Sozialminister einschießt.

Aber auch die Regierungspartei SPÖ wehrt sich; etwa durch den Vorsitzenden des Wiener Pensionistenverbandes, den ehemaligen Finanzminister, Wiener Finanzstadtrat und langjährigen Präsidenten des SK Rapid Wien, Rudi Edlinger, der in einer Aussendung vom 07. Juli 2015 die ÖVP tadelt, keinen Wahlkampf auf Kosten von Mindestsicherungsbezieher/innen (=Sozialhilfe neu) zu betreiben. "Selbstverständlich weiß die ÖVP genau, dass die Bezieher der Mindestsicherung strengen Überprüfungen hinsichtlich der Anspruchsberechtigung und oftmals sogar doppelten Kontrollen bei Bezug unterliegen. Die Drohung mit einer noch schärferen ‚Kontrollkeule‘ sei daher in sachlicher Hinsicht unnötig und soll offensichtlich allein der ÖVP als Wahlkampfmunition dienen und Vorurteile der Wohlhabenden gegenüber den Ärmsten schüren", so Edlinger weiter." (OTS0072, 8. Juli 2015, 10:53 Pensionistenverband Wien). Er wehrt sich gegen die Annahme der ÖVP, die Bezieher/innen der Mindestsicherung würden sich in die sogenannte soziale Hängematte legen. Und die Mindestsicherungsbezieher/innen sind Arbeitssuchende, deren Versicherungsleistung unter 827 Euro liegt. Diese Aussendung ging ein wenig unter. Da Thema sollte jedoch zwei Wochen später zum Boomerang werden.

Dass sich die ÖVP auf die Mindestsicherung einschießt, scheint mittlerweile eine sommerliche Tradition zu sein. Wir springen in das Jahr 2013. Damals unterstellte die ÖVP-Innenministerin und ÖAAB-Vorsitzende Mikl-Leitner (der ÖAAB ist die Arbeitnehmer/innenorganisation der ÖVP) dem Wiener Magistrat, "zu lasch" in den Kontrollen der Mindestsicherungsbezieher/innen zu sein. (http://orf.at/stories/2195452/2195449/). 2015 wird das Thema auf der Bundesebene reaktiviert und zwar ein paar Tage nach der Veröffentlichung der Arbeitsmarktzahlen am 01. Juli. "In Verbindung mit dem neuen Voting-Tool nehme die ÖVP einen weiteren Beschlusspunkt des Bundesparteitages aktiv auf. So wurde nach zahlreichen Anträgen und Diskussionen die Neuregelung der Mindestsicherung im neuen Parteiprogramm beschlossen. Mit dem Ziel, neue Anreize zum Wiedereinstieg zu verfolgen, Gerechtigkeit für den Steuerzahler zu sichern, aber auch um Kontrollen gegen Missbrauch zu verschärfen. "Die Mindestsicherung war wesentliches Thema am Parteitag und ist Dauerthema bei unseren Mitgliedern. Daher haben wir auch das erste Online-Voting zur Mindestsicherung durchgeführt. Mit dem klaren Ergebnis, dass 88,7 Prozent für strengere Regeln und verschärfte Kontrollen sind", erklärt Gernot Blümel." (OTS0148, 6. Juli 2015, 14:01: ÖVP Bundespartei, Abteilung Presse und Medien). Die Botschaft geht natürlich direkt in Richtung Wien.

ÖVP Wien als Jobmotor?

Zwei Tage später geht die ÖVP-Wien mit der Ankündigung ins Rennen, 25.000 neue Jobs in Wien schaffen zu wollen und nennt sogar die Bereiche, in denen diese Jobs entstehen sollen. Interessant ist z.B. der Hinweis, dass "1.500 Jobs durch Lohnnebenkostenbefreiung für den ersten Mitarbeiter" entstehen sollen. "Bei einer Förderung von 25 Prozent des Bruttolohns wurde dies seit 2009 bei 451 Personen in Anspruch genommen. Bei vollkommener Übernahme wird mit 300 Jobs pro Jahr bis 2020 gerechnet". Diese Aussage bezieht sich auf die sogenannte EPU-Förderung, die das Arbeitsmarktservice für den/die erste Mitarbeiter/in vergibt. Die Frage müsste meines Erachtens jedoch lauten, wieso nur knapp 500 Förderungen in gut 5 Jahren ausbezahlt wurden. Hier möchte ich kurz einhaken. Ich habe persönlich den Eindruck, dass WKÖ, Wirtschaftsbund, IV und ÖVP vordergründig nach einer Senkung der Lohnnebenkosten lechzen, jedoch die vorhandenen Förderungen, die über den Tisch des Arbeitsmarktservices gehen, meist kleinreden wollen oder kaum erwähnen. Dies macht auch Sinn: Denn wenn man z.B. darauf hinweist, dass ältere Arbeitssuchende über das Beschäftigungsprogramm 50plus mit bis zu 20.000 Euro gefördert werden können, zerschlagen sich schnell die Forderungen nach Lohnnebenkostensenkungen.

Andere Vorschläge der ÖVP zur Arbeitsplatzbeschaffung hängen stark von Bauprojekten ab, wie etwa die Anbindung Wiens an die transsibirische Eisenbahn, die laut ÖVP 3100 Arbeitsplätze schaffen würde (wie lange?). (OTS0134, 8. Juli 2015, 12:46; ÖVP Klub der Bundeshauptstadt Wien). Soweit, so gut. Leider geht der Vorschlag der ÖVP in der Frage um den Euroverbleib Griechenlands unter. Die Diskussion um den Verbleib oder Nichtverbleich Griechenlands in der Euro-Zone überlagert einfach jede nationale Debatte.

Am 17. Juli bringt die FPÖ einen (nicht ganz so) neuen Aspekt in die Wiener Diskussion ein. Die FPÖ will ihrem selbstgemeißelten Ruf als "soziale Heimatpartei" gerecht werden und sorgt sich um die "working poor". Johann Gudenus in einer Aussendung: "Neben den rund 150.000 Arbeitslosen steigt in Wien auch vermehrt die Zahl der "working poor" - jener Gesellschaftsschicht, die zwar arbeiten geht, sich das Leben aber trotzdem nicht mehr leisten kann. Auch der verhältnismäßig hohe Anteil an Migranten, die auf Grund mangelnder Qualifikation keine Jobs oder wenn nur schlecht bezahlte finden, sorgt für Probleme. "Es ist also kein Wunder, wenn die Betreiber der Sozialmärkte über leere Regale klagen. Die Nachfrage an günstigen Lebensmitteln und notwendigen Toilettenartikeln übersteigt mittlerweile das Angebot", so Gudenus wenig überrascht." (OTS0063, 17. Juli 2015, 10:30: FPÖ Wien)

In den folgenden Tagen wird von Seiten der ÖVP und ihren Neben- und Vorfeldorganisationen das Mantra der Senkung der Lohnnebenkosten bei gleichzeitiger Flexibilisierung der Arbeitszeiten weiter gebetet. Am 21. Juli lässt Rolf Gleißner von der Wirtschaftskammer Österreich - Abteilung für Sozialpolitik und Gesundheit, per Presseaussendung folgendes Statement vom Stapel: "Wir haben ein generelles Wachstums- und Beschäftigungsproblem. Generell aber muss es jetzt darum gehen, Wachstumsturbos für die heimische Wirtschaft zu zünden und damit die Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe gegenüber internationaler Konkurrenz zu stärken. Deshalb brauchen wir niedrigere Lohnnebenkosten und flexiblere Arbeitszeiten. Denn ohne Wachstum gibt es keine zusätzliche Beschäftigung." OTS0138, 21. Juli 2015, 15:49; Rolf Gleißner Wirtschaftskammer Österreich
Abteilung für Sozialpolitik und Gesundheit). Am 20. Juli hat sein Chef, Christoph Leitl, im Rahmen der Programmpräsentation der ÖVP, bereits die Themen Lohnnebenkostensenkung, Flexibilisierung der Arbeitszeit und Entbürokratisierung begrüßt (OTS0092, 20. Juli 2015, 13:33; WKO Presseabteilung; Haberson). Am selben 20. Juli wird der Generalsekretär des Wirtschaftsbundes, Wirtschaftssprecher der ÖVP und Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaft und Industrie im Parlament, Peter Haubner, mit einer Aussendung zitiert, die ebenso von Christoph Leitl stammen könnte. (OTS0095, 20. Juli 2015, 13:43; Österreichischer Wirtschaftsbund; Mayer).

Der Bundesrat schläft nicht

Am 24. Juli befasst sich der Bundesrat erneut mit dem Thema Arbeitslosigkeit, allerding speziell in der Zielgruppe 50plus. Die Chancen und Probleme der Generation 50+ am Arbeitsmarkt stehen im Mittelpunkt einer "Aktuellen Stunde". Die Vertreter/innen der Länderkammer machen unterschiedliche Vorschläge zur Bekämpfung des überdurchschnittlichen Anstiegs der Arbeitslosenrate bei älteren Menschen. Die SPÖ positioniert erneut das auch von den Gewerkschaften geforderte Bonus-Malus-System für die Beschäftigung von älteren Arbeitssuchenden. Die ÖVP setzt auf das Thema Gesundheitsprävention, um die Menschen länger und gesund im Erwerbsprozess zu halten. Die Freiheitlichen schwingen sich auf eine Position ein, die - wie soeben gesehen - gerne von der ÖVP eingenommen wird, und machten die hohen Lohnnebenkosten für die Altersarbeitslosigkeit verantwortlich. Die Grünen fassen den Blick weiter und suchten "generationsübergreifende Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts" - wie es in der Presseaussendung der Parlamentsdirektion so schön heißt (OTS0102, 23. Juli 2015, 12:31. Presseabteilung der Parlamentsdirektion).

Am selben Tag schießt die ÖVP-Wien noch einmal gegen die Wiener Stadtregierung und wärmt das Thema erneut auf. Der Ton bleibt derselbe. "Ganz offensichtlich hat Rot-Grün die falschen Schwerpunkte gesetzt. Wie können etwa Bürgermeister Michael Häupl und Finanzstadträtin Renate Brauner ernsthaft mehr AMS-Mittel vom Bund fordern, wenn gleichzeitig Millionenbeträge in "Event-WC-Anlagen" fließen. (...) Manfred Juraczka abschließend: "Der wichtigste Herausforderung in und für Wien ist, die Wirtschaft anzukurbeln, bestehende Arbeitsplätze zu sichern und dringend benötigte neue Jobs zu schaffen. Dazu braucht es einen Kurswechsel nach dem 11. Oktober, dazu braucht es den bürgerlichen Hausverstand, wir sind dazu bereit." (OTS0080, 24. Juli 2015, 12:47; ÖVP Klub der Bundeshauptstadt Wien). Aber auch der Klubobmann (=Fraktionschef) der Rathaus-ÖVP bringt das Thema Arbeitsplätze in seiner Bilanz der ÖVP-Oppositionsarbeit unter. Er behauptet, dass die Stadtregierung die Themen "Wirtschaft und Arbeit links liegen gelassen" hätte (man beachte das Wortspiel) (OTS0032, 24. Juli 2015, 10:27; ÖVP-Klub der Bundeshauptstadt Wien). Am 25. Juli kritisiert auch H.C. Strache, der Chef der Bundes-FPÖ, die Wiener Stadtregierung und wirft ihr ebenso Tatenlosigkeit zu. Seine Vorschläge gehen in Richtung sektorale Sperre des Arbeitsmarktes für Zuwander/innen vor allem aus dem Osten. Natürlich wird im selben Atemzug die angeblich verpatzte Integrationspolitik der Stadtregierung kritisiert, ebenso wie das unternehmerfeindliche Erhöhen von Gebühren. Die Aussendung stammt jedoch nicht, wie man es erwarten könnte, aus dem freiheitlichen Parlamentsklub oder der Bundesparteizentrale, sondern von der FPÖ Wien. (OTS0037, 25. Juli 2015, 12:06; FPÖ Wien).

Schelling mag Hartz IV

Ebenfalls am 25. Juli verschärft ÖVP-Finanzminister Schelling die Gangart zusehends. In einem 2+1 Sommergespräch der Tageszeitung "Der Standard" meint er: "Hinter unserem System steht ein Sozialstaat, den wir damit finanzieren. Aber ich bin bei Ihnen, nicht nur den Faktor Arbeit anzuschauen, sondern auch die Lohnstückkosten. Es ist auch deshalb schwer, Arbeitskräfte zu finden, weil das Arbeitsloseneinkommen fast genauso hoch ist wie das Arbeitseinkommen. In Deutschland gibt mit Hartz IV ein Modell, das offenbar besser funktioniert." (2+1 Sommergespräch: Schelling / Zotter / Egyed vom 25. Juli 2015). Dieser Sager wird von fast allen Parteien zurückgewiesen. Man kann fast sagen, dass ein Sturm der Entrüstung losbricht. Die in der ganzen Presseaussendungsschlacht bisher eher zurückhaltenden Grünen sprechen Schelling jede Qualifikation als Arbeitsmarktexperte ab, betonen jedoch gleichzeitig, dass die Arbeitsmarktpolitik reformiert werden müsste (OTS0089, 28. Juli 2015, 12:48; Grüner Klub im Parlament). Natürlich applaudieren die WKO Jugend und der Wirtschaftsbund ihrem Finanzminister und Parteikollegen und verständigen sich auf die Redewendung, dass das Arbeitslosengeld nicht zu hoch sei, sondern zu wenig Anreize böte, eine neue Stelle anzutreten. Einen ähnlichen Sprachduktus verwendet Herbert Kickl von der FPÖ, allerdings unter dem Hinweis, dass die Mindestsicherung überwiegend von Nichtstaatsbürgern bezogen werden würde. Auffallend ist, wie bereits gesagt, dass die Grünen sowohl auf Bundes,- als auch auf Wienebene sich mit Pressemeldungen zum Thema Arbeitslosigkeit im Juli mehr als zurückhalten. Erst die Ausführungen von Finanzminister Schelling sorgen für Kritik von der Bundespartei der Grünen und von den grünen Gewerkschaftler/innen. "Der Amoklauf der ÖVP gegen die Realität und die Ärmsten der Armen nimmt besorgniserregende Ausmaße an", meint Klaudia Paiha, Bundessprecherin der Alternativen, Grünen und Unabhängigen GewerkschafterInnen AUGE/UG. "Dass die ÖVP gezielt gegen Menschen in sozialen Problemsituationen agitiert, zeigt doch recht deutlich, dass diese Partei moralisch wie intellektuell im 19. Jahrhundert hängen geblieben ist. Wenn Schelling & Co. unterstellen, Arbeitslose und MindestsicherungbezieherInnen würden sich in der 'sozialen Hängematte' ausruhen, zeugt das nur einmal mehr davon, wie weit die ÖVP von den Lebensrealitäten armutsgefährdeter oder in Armut lebender Menschen entfernt ist." (OTS0089, 29. Juli 2015, 13:21 Alternative und Grüne GewerkschafterInnen; Paiha) Zuvor war Schelling jedoch schon von seinem Hartz IV-Sager abgerückt und stellte die Zumutbarkeitsbestimmungen des AMS zur Diskussion. Gemeint sind die gesetzlich festgelegten Kriterien nach denen ein/e Arbeitssuchende/r einen Job annehmen muss (Gehaltsuntergrenze, Fahrzeit, Berufsschutz, Anzahl der Stunden etc.). Auch diese Diskussion halten andere Parteien und vor allem der zuständige Sozialminister für entbehrlich. Das Thema hat allerdings bei der ÖVP eine gewisse Tradition. Bereits im November 2014 forderte Wirtschaftsminister und ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner dazu auf die Zumutbarkeitskriterien zu überprüfen. In einem Artikel in "Die Presse" heißt es. "Konkret zweifelt der ÖVP-Chef an der Effizienz der Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Erste unmittelbare Folge: Der Sozialminister muss auf Wunsch Mitterlehners jetzt prüfen, ob die Zumutbarkeitsbestimmungen, mit denen die Auflagen für Arbeitslose bei Aufnahme oder Verweigerung von Jobs berechnet werden, ausreichen." (Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2014). Dass das Thema also keine 9 Monate später erneut aufgegriffen wird, könnte ein Indiz dafür sein, dass die ÖVP das Thema zum Wahlkampfthema ausbauen möchte - oder irgendein Thema braucht um das Sommerloch zu füllen und von den eigenen Baustellen abzulenken.

So wie Schellings Statements zu den Zumutbarkeitsbestimmungen, fällt die Äußerung zu Hartz IV genauso wenig vom Himmel. Im Juni hatte der Chef der Industriellenvereinigung, die - wir erinnern uns im Verwaltungsrat des Arbeitsmarktservice sitzt - eine ganz ähnliche Position ergriffen. In einem Artikel der Tageszeitung "Der Kurier" vom 10. Juni 2015 heißt es: "Warum Kapsch Hartz IV für Österreich will" und weiter: "In Österreich steigt die Arbeitslosigkeit massiv, in Deutschland sinkt sie. Für die Industriellenvereinigung (IV) ein Grund, die soziale Absicherung von Arbeitslosen und die Job-Vermittlung zu hinterfragen. Mit Verweis auf den besorgniserregenden Zuwachs an Langzeitarbeitslosen, fordert IV-Präsident Georg Kapsch Reformen nach dem deutschen "Hartz IV"-Modell". Konkret sollen Notstandshilfe und bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS) in eine einheitliche Grundsicherung umgewandelt werden." (Anita Staudacher. Warum Kapsch Hartz IV für Österreich will. Der Kurier. 10. 06. 2015). Auch hier darf ich noch einmal kurz einhaken. Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten ist das Arbeitslosengeld relativ niedrig und die Notstandhilfe relativ hoch. Das bedeutet: Nach dem Arbeitslosengeld, das für einige Monate (je nach Versicherungsdauer und Alter) gewährt wird, wechselt man in die sogenannte Notstandhilfe. Diese beträgt im Schnitt 92 Prozent des Arbeitslosengeldes und wird nur einmal im Jahr beantragt und verändert sich faktisch nicht mehr (abgesehen von der schleichenden Entwertung durch die Inflation, da weder Arbeitslosengeld noch Notstandshilfe valorisiert werden).

Bedenklich ist, dass die Parteien die Themen nach dem Wiederholungsprinzip in den Raum stellen. Je öfter man also behauptet, dass Mindestsicherungsbezieher/innen gar nicht arbeiten wollen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Satz immer mehr Fürsprecher/innen und Widerkäuer/innen findet. Schon Josef Kirschner hat das Prinzip der "stereotypen respektive der quantifizierten Wiederholung" in seinem Buch "Manipulieren, aber richtig", das vor gut 40 Jahren erschien beschrieben. Kirschner geht davon aus, dass die Wiederholung einer Botschaft den "vermeintlichen" Wahrheitsgehalt steigen lässt und die Wirkung der Aussage sich vertieft. (Kirschner; 1974; 115). Die Musikindustrie weiß diesen Effekt zu schätzen. So werden bestimmte Songs nach einem gewissen Rotationsprinzip immer und immer wieder gespielt um die Akzeptanz und die Verkaufszahlen zu steigern. Der Effekt ist, dass das Publikum sich an das Lied "gewöhnt" - und was besonders perfide ist: Man kann dem Wiederholungsprinzip nur sehr schwer entgehen. Lesen Sie sich die Zitate noch einmal durch und überprüfen Sie es selbst.

Wem hilft dieser Arbeitslosenwahlkampf?

Unter der Brille der Klientenpartei betrachtet, wird es allen Parteien helfen. Einerseits der ÖVP, die sich als Wirtschaftspartei und Vertreterin der Unternehmen präsentieren kann (zumindest auf Bundesebene) andererseits der SPÖ, die sich als soziale Partei und Hüterin von sozialen Standards positionieren kann. Die FPÖ kann das Ausländerthema geschickt mit der sozialen Frage verbinden. Die anderen Parteien versuchen sich irgendwie zu positionieren. Team Stronach und die NEOS übernehmen eher unternehmensfreundliche Positionen. Nur die Grünen scheinen sich bis zu einem gewissen Grad raus zu halten. Nimmt man die Klientenbrille weg, führt die Diskussion nur zu einer Verstärkung der Gräben zwischen jenen, die einer Erwerbsarbeit nachgehen und jenen, die es nicht tun (aus welchen Gründen auch immer). Tatsache ist jedoch, dass es auf dieser Ebene sehr polemisch und populistisch zugeht und zwar quer durch die parlamentarischen Bänke. Lohnnebenkosten zu senken ohne Gegenfinanzierung höhlt den Sozialstaat aus. Ausländische Arbeitnehmer/innen anders zu behandeln als einheimische, verstößt gegen jeglichen Gleichheitsgrundsätze und stellt eine Gefahr für das Zusammenleben dar - und das Arbeitslosengeld ist ein wichtiger Faktor der Sozialpolitik. Ebenso wenig bringt es, ein paar kosmetische Ansätze wie das "Beschäftigungsprojekt 50plus" oder die Förderung der Freiwilligenarbeit als großen Wurf zu präsentieren und zu verschweigen, dass man das Geld für diese Projekte woanders abgezwackt hat. Auch das Beharren von AMS und Sozialministerium, dass die Konjunktur 2018 besser werden würde, erinnert mehr an Stoßgebete, denn an konsequente Lösungsansätze. Solange jedoch der Konsens herrscht, dass Lohnarbeit für die meisten Menschen die einzige Möglichkeit ist, den eigenen Lebensunterhalt zu bestimmen, sollte das Thema zur Gänze aus dem Wahlkampf gestrichen werden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Neil Y. Tresher

Alle Angaben zu meiner Person sind Hörensagen mit Gewehr - äähm ohne Gewähr.

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