Das verheerende Erdbeben in Westasien mit Zehntausenden Toten hat die internationale Aufmerksamkeit erneut darauf gelenkt, wie hoch das Risiko für tektonische Naturkatastrophen in der Region ist. Nicht weit entfernt der betroffenen Städte und Dörfer liegt die Mittelmeerküste der Provinz Mersin. Dort wurde 2015 der Grundstein für das erste zivile Atomkraftwerk der Türkei gelegt: Akkuyu wird vom russischen Staatskonzern Rosatom gebaut, es liegt etwa 400 Kilometer westlich von Gaziantep, dem Epizentrum des ersten Erdstoßes vom 6. Februar.
Im Jahr 2010, also noch vor der Nuklearkatastrophe von Fukushima, die Folge eines Erdbebens war, hatten die Regierungen Russlands und der Türkei ein erstes Abkommen über den gemeinsamen Einstieg in die Atomenergiee
omenergieerzeugung geschlossen. 2011, kurz nach Fukushima, tüteten Putin und Erdoğan den Bau ein, 2015 folgte die Grundsteinlegung, 2018 begannen die Arbeiten. Rosatom ist für die Finanzierung und Errichtung Akkuyus zuständig, soll das Kernkraftwerk zudem betreiben und für die Ausbildung von türkischen Spezialist*innen wie auch die Entsorgung verbrauchten Materials sorgen. Die Türkei hat sich im Gegenzug darauf verpflichtet, zu einem Festpreis in Akkuyu erzeugten Atomstrom von Rosatom zu kaufen und damit künftig zehn Prozent des türkischen Strombedarfs zu decken.Für das Erdoğan-Regime hat das Akkuyu-Projekt erhebliche Bedeutung. Erstens will es die Türkei schon lange mithilfe von Atomkraft „modernisieren“, zweitens ist der Bau ein wichtiger Bestandteil der Zusammenarbeit mit Putins Regime, die trotz NATO-Mitgliedschaft der Türkei in den vergangenen Jahren vertieft wurde. Und Akkuyu ist das einzige Bauvorhaben, das bislang auch tatsächlich umgesetzt wird, wodurch seine Bedeutung aus Sicht der AKP-Regierung noch steigen dürfte. Andere Versuche, etwa mithilfe japanischer Firmen in Sinop am Schwarzen Meer ein Kraftwerk zu errichten, sind bislang aus unterschiedlichen Gründen gescheitert.Erstes Atomenergieabkommen mit den USA schon 1955Akkuyu aber wächst und steht angeblich kurz vor der (Teil)Fertigstellung. Noch in diesem Jahr soll der erste von insgesamt vier Blöcken in Betrieb genommen werden: Bis zum Sommer, spätestens aber zum 29. Oktober 2023, dem 100. Jahrestag der Republikgründung, der mit erheblichem nationalistischen Pomp begangen werden wird. Die Verbindung von Nationalfeiertag und der feierlichen Eröffnung von Prestigeprojekten hat Tradition: Zum 95. Jahrestag der Türkischen Republik war der neue Großflughafen in Istanbul eröffnet worden. Um diesen Termin halten zu können, haben damals etliche Arbeiter mit dem Leben bezahlt.Die Pläne für Akkuyu gibt es seit den 1970er Jahren. Die Umsetzung allerdings wurde erst unter dem AKP-Regime und als Teil der geostrategischen Partnerschaft mit Russland verwirklicht und könnte nun, ausgerechnet im Angesicht einer Jahrhundertkatastrophe, vollendet werden. Mit Atomforschung hatte die Türkei dagegen schon früh begonnen: 1955 war sie das erste Land überhaupt, das mit den USA ein Atomenergieabkommen abschloss. Nur sieben Jahre später wurde in der Provinz Istanbul eine erste Anlage in Betrieb genommen – das nukleare Bildungs- und Forschungsinstitut Küçükçekmece gibt es bis heute.Ängste und Kritik an dem Vorhaben, nun auch kommerziell Atomkraft in der Türkei zu erzeugen, etwa von Umweltaktivist*innen, werden routiniert weggewischt: Nach der Fukushima-Katastrophe erklärte Erdoğan, damals noch Ministerpräsident, die Verwendung von Propangas in der Küche sei „genauso gefährlich wie Strahlung“. Er reihte sich damit ein in eine lange Liste ähnlich klingender Behauptungen hochrangiger türkischer Politiker. „Radioaktiver Tee schmeckt besser“ hatte der einstige Premierminister Turgut Özal wissen lassen und der nach dem Militärputsch im September 1980 herrschende Junta-Chef Kenan Evren behauptete gar, Strahlung sei gut für die Knochen.Atomkraftwerk in erdbebengefährdeter Region nahe Ecemiş-GrabenAuch jetzt, nach der Erdbebenkatastrophe, wurde schnell Entwarnung gegeben: Es habe keine Schäden gegeben, teilten sowohl das türkische Energieministerium – von 2016 bis 2018 wurde dies übrigens von Erdoğans Schwiegersohn Berat Albayrak geleitet – und Rosatom umgehend mit. Zwar seien rund um Akkuyu auch Erdstöße der Stärke 3 gemessen worden, doch die Anlage sei intakt, hieß es. Weitere Untersuchungen würden veranlasst.Die Katastrophe wirft allerdings ein grelles Licht darauf, welch enorme Gefahren mit dem Projekt Akkuyu verbunden sind: Das Beben am frühen Morgen des 6. Februars hatte eine Stärke von 7,7 bis 7,8; gefolgt von einem weiteren starken Beben mit 7,5. Bis zu einer Stärke von 6,5 sei das Werk sicher, behauptet Rosatom. Im Juni 1998 gab es in der Provinz Mersin ein Beben der Stärke 6,3, dessen Epizentrum weniger als 200 Kilometer von der Akkuyu-Baustelle entfernt lag. Unter der Region liegt der sogenannte Ecemiş-Graben, an dem die Afrikanische und die Eurasische Kontinentalplatte zusammentreffen. Für Gegner*innen des Projekts war dieses Risiko von Beginn an einer der zentralen Kritikpunkte.Sie verweisen überdies auf bereits existierende atomare Gefahren in der Region: So wird etwa nahe der türkisch-armenischen Grenze auf armenischer Seite der alte Sowjetmeiler Mezamor betrieben – in ebenfalls stark erdbebengefährdetem Gebiet. Dort hatte es 1988, noch zur Zeit der Armenischen SSR, das Beben von Spitak mit 25.000 Toten gegeben, Mezamor blieb damals unbeschädigt, ein Einzelfall, in dem ein für Erdstöße gerüstetes Kernkraftwerk tatsächlich einem starken Beben standhalten konnte und auf den Rosatom heute verweisen kann. Das ist zwar reichlich wenig, doch scheint die Katastrophe vom 6. Januar bislang keine Folgen für die Eröffnungspläne von Akkuyu zu haben.