Erdoğans Verfolgungsfuror

Türkei Das Ausmaß der Repressionen ist immens, Heiko Maas will aber nach wie vor „Licht und Schatten“ sehen
Ausgabe 12/2021
Menschen feiern das persische Neujahrsfest Nouruz in der Türkei. Inmitten der Feiernden findet sich einer Flagge der prokurdischen HDP
Menschen feiern das persische Neujahrsfest Nouruz in der Türkei. Inmitten der Feiernden findet sich einer Flagge der prokurdischen HDP

Foto: Burak Kara/Getty Images

Die demokratische Opposition in der Türkei erlebte ihre wohl längste Märzwoche. Innerhalb von nur vier Tagen verlor zunächst am 17. März der Abgeordnete der linken Oppositionspartei HDP Ömer Faruk Gergerlioğlu seinen Parlamentssitz und damit die Immunität. Am selben Tag beantragte der Generalstaatsanwalt des Obersten Gerichtshofs das Verbot der HDP. In der Nacht auf den 20. März erließ Präsident Recep Tayyip Erdoğan dann ein Präsidialdekret, mit dem das Land aus der Istanbul-Konvention – dem Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt – austrat. Am 21. März schließlich drangen mehr als 100 Polizisten ins Parlament ein und nahmen Gergerlioğlu vorübergehend fest.

Es gibt einige Gründe für Erdoğans ungebrochen aggressiven Kurs: die türkische Wirtschaftskrise, die Inflation, Corona, die Umfragewerte. Eine – ja wirklich! – kürzlich angeschobene „Menschenrechtsoffensive“ soll dem Westen signalisieren: Wir tun was – und der AKP-Basis: Wir machen es besser als der Westen. Ein weiterer Grund für das Agieren der türkischen Regierung ist so simpel wie ernüchternd: weil sie es kann. Auch daran erinnerte die lange Märzwoche: Am 18. März jährte sich der Anti-Flüchtlings-Deal zwischen Europäischer Union und Türkei zum fünften Mal.

Keine Partei hierzulande verkörpert das auch auf diesen Deal bauende deutsch-europäische Nichtstun mehr als die SPD, die seit 2013 den Außenminister stellt. Sie beließ es bei einem zahnlosen Statement zum drohenden HDP-Verbot. Das Außenministerium übte sich in peinlicher Äquidistanz, forderte die türkische Regierung zu Mäßigung und die HDP zur „Abgrenzung gegenüber der PKK“ auf. Beim Treffen der EU-Außenminister zu Wochenbeginn sprach dann ein „besorgter“ Heiko Maas von „Licht und Schatten“ und Dialog. Das „Licht“ in Maas’ Welt ist die Tatsache, dass sich der Gas-Streit in der Ägäis beruhigt hat.

Wer aber nichts gegen die Verfolgung der Opposition unternimmt und zudem offensichtlich andere Maßstäbe an Erdoğan anlegt als etwa an den belarussischen Präsidenten Lukaschenko, der bestärkt die türkische Regierung in ihrem Verfolgungsfuror – und übrigens auch in ihrer brutalen außenpolitischen Expansion, etwa in Nordsyrien.

Vielleicht muss man sich das Ausmaß der Repression noch einmal vor Augen führen, um zu begreifen, dass Maas und die EU hier keine kluge Diplomatie betreiben, sondern die demokratische Opposition verraten: 20.000 HDP-Mitglieder wurden in den vergangenen fünf Jahren festgenommen, mehr als 10.000 inhaftiert, fast alle Bürgermeister*innen der HDP abgesetzt. Eine Reihe prominenter HDP-Politiker*innen wurde zu Haftstrafen verurteilt, darunter die früheren Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ. Im Verbotsantrag findet sich ein politisches Betätigungsverbot für die beiden, ebenso wie für die aktuellen Vorsitzenden Pervin Buldan und Mithat Sancar und weitere 600 HDP-Mitglieder. Gegen Sancar leitete die Staatsanwaltschaft von Diyarbakır parallel zum Stelldichein der EU-Außenminister Ermittlungen wegen einer Rede beim kurdischen Neujahrsfest Newroz ein.

Doch gerade bei den Newroz-Feiern in jener langen Märzwoche hat sich noch etwas anderes gezeigt: Die HDP ist auch nach jahrelanger Zermürbung die Stimme von Millionen Menschen, die im Vielvölkerstaat Türkei für Minderheitenrechte eintreten. Wie viele neue Gefängnisse die Regierung auch bauen lässt: Die Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit lässt sich nicht einfach verbieten.

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