Experte für Kriegsdienstverweigerung: „Befehle kann man auch verweigern“
Interview Rudi Friedrich kämpft dafür, dass russische Kriegsverweigerer in Deutschland Aysl bekommen. Doch das Innenministerium unterscheidet zwischen Deserteuren und Militärdienstentziehern – und das ist ein Problem
Zehntausende russische Reservisten haben das Land verlassen
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Ein etwas verstaubt klingender Begriff ist plötzlich wieder in aller Munde: Deserteur. Nachdem Russlands Präsident Wladimir Putin am 21. September eine (Teil-)Mobilmachung verkündet hatte, hatten Zehntausende Reservisten fluchtartig das Land verlassen. Die wenigsten von ihnen sind in Richtung EU aufgebrochen, denn die Wege hierher bleiben ihnen bislang verschlossen. Viele melden sich auf der Suche nach Hilfe und Beratung beim Verein Connection e.V. in Offenbach am Main. Dessen Geschäftsführer Rudi Friedrich bittet, bevor es mit dem Interview losgehen kann, noch kurz um Geduld: Er will das Telefon leise stellen – es klingelt im Moment ziemlich oft.
der Freitag: Herr Friedrich, haben Sie zurzeit mehr zu tun als sonst?
Rudi Friedrich: Seit der Teilmobilmachung erh
Rudi Friedrich: Seit der Teilmobilmachung erhalten wir sehr viele Anfragen: Vergangene Woche waren es etwa hundert. Und nicht nur wir, auch Pro Asyl. Viele versuchen verzweifelt, aus Russland rauszukommen. Andere fragen uns, wie es möglich ist, in Kasachstan, Georgien, Usbekistan oder anderen Ländern, in die sie geflüchtet sind, ein Visum zu erhalten, um nach Deutschland, oft zu Bekannten und Verwandten, einreisen zu können. Außerdem erreichen uns auch vermehrt Anfragen von Leuten, die es geschafft haben, nach Westeuropa zu gelangen, und die Beratung brauchen, wie es dort jetzt für sie weitergehen kann.Wie viele Männer haben sich seit Beginn des Krieges entzogen?Nach unserer Schätzung haben sich mindestens 150.000 militärdienstpflichtige Männer zwischen 18 und 60 Jahren aus Russland entzogen. Da ist alles dabei: Militärdienstentzieher, Deserteure, Kriegsdienstverweigerer. Bei der Ukraine als angegriffenem Land schätzen wir, dass sich 140.000 Männer im militärdienstpflichtigen Alter in der EU aufhalten. Sie haben einen Schutzstatus, weil sie als ukrainische Bürger humanitären Aufenthalt für drei Jahre bekommen.Belarus könnte sich noch am Krieg in der Ukraine beteiligen.Ja. Die Organisation Nash Dom hat im März belarussische Männer dazu aufgerufen, den Rekrutierungen keine Folge zu leisten. Daraufhin sind schätzungsweise 22.000 ins Ausland gegangen.Kriegen russische Deserteure humanitäre Visa in Deutschland?Nein. Die Möglichkeit des humanitären Visums gilt im Moment nicht für Kriegsdienstverweigerer oder Militärdienstentzieher, sondern nur für politische Oppositionelle. Solange nicht festgelegt wird, dass humanitäre Visa auch für die, die sich dem Krieg entziehen, ausgestellt werden können – sowohl für die, die noch in Russland sind als auch die, die schon ins Ausland geflohen sind – ist das für die allermeisten keine Lösung.Die derzeitige Rechtslage ist also ungenügend.Absolut. EU-Ratspräsident Charles Michel hat im April russische Soldaten dazu aufgerufen, beim Krieg nicht mitzumachen. Wenn ich dann wiederum sehe, wie minimal das Schutzangebot ist – das ist eine Katastrophe.Worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen Kriegsdienstverweigerern, Militärdienstentziehern und Deserteuren?Kriegsdienstverweigerer sind Leute, die explizit erklären, keinen Dienst zu leisten – aus welchen Gründen auch immer. Militärdienstentzieher sind hingegen Menschen, die sich der Rekrutierung entziehen; oft, indem sie abtauchen, nicht erreichbar sind, aber eben auch, indem sie ins Ausland gehen, um sicher zu sein, dass kein Einberufungsbefehl sie erreichen kann. Deserteure sind Soldaten, also bereits einberufen, die sich, häufig aufgrund einer konkreten Kriegssituation, entscheiden, nicht mehr mitmachen zu wollen, und abhauen. Der Großteil der Männer, die jetzt aus Russland weggegangen sind, sind Militärdienstentzieher. Es gibt auch Deserteure darunter, ich hatte auch schon ein paar in der Beratung, aber das ist ein kleiner Teil.Spielt es für die Chancen auf Asyl eine Rolle, zu welcher Gruppe man gehört?Und wie. Das Bundesinnenministerium hat im April eine Stellungnahme abgegeben, in der es gesagt hat: Russische Deserteure, sofern sie die Desertion nachweisen können, sollen politisches Asyl erhalten! Das große Problem bei dieser Regelung: In der Stellungnahme des Innenministeriums steht auch ausdrücklich, dass das nicht für Militärdienstentzieher gilt.Also für die meisten gilt es nicht?Genau. All diejenigen, die klug genug waren, abzuhauen und sich der drohenden Rekrutierung zu entziehen, bevor sie erfolgt, fallen nicht unter diese Regelung. Ein Großteil derjenigen, die Flüchtlingsschutz suchen und suchen werden, hat damit ein großes Problem: Denn sie können oft nicht nachweisen, dass sie der Rekrutierung unterlagen, weil sie gegangen sind, bevor sie einen Einberufungsbefehl erhalten haben.Die Befürchtung, rekrutiert zu werden, reicht nach jetziger Regelung nicht aus, um Asyl zu bekommen?Leider ist das so. Bei 300.000 Einberufungen auf 25 Millionen Reservisten ist es nur schwer möglich, den verlangten Nachweis zu führen, dass man selbst mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rekrutiert worden wäre. Das wird aber in der Asylrechtsprechung gefordert. Deshalb befürchte ich, dass viele Anträge abgelehnt werden, wenn nicht eine andere Regelung gefunden wird. Bisher liegen aber noch keine Asylentscheidungen dazu vor. Es gibt noch die Ebene der europäischen Gesetzgebung. In der Qualifikationsrichtlinie, Artikel 9, steht, dass Personen, die sich einem völkerrechtswidrigen Krieg oder völkerrechtswidrigen Handlungen entziehen und dafür Verfolgung befürchten müssen, einen Flüchtlingsschutz erhalten sollen. Das Problem: Die Rechtsprechung dazu hat viele Ausschlussgründe entwickelt.Was fordern Sie?Erstens müssen die Betroffenen die Möglichkeit erhalten, hierherzukommen, um überhaupt Asyl zu beantragen: Das geht nicht in Kasachstan oder so. Die Grenzen müssen geöffnet, die Visaregelungen verändert werden. Zweitens muss die Zuerkennung einer Flüchtlingseigenschaft dringend auf Militärdienstentzieher und Kriegsdienstverweigerer ausgeweitet werden.Placeholder infobox-1Müssten die westeuropäischen Regierungen als Alliierte der Ukraine nicht ein Interesse daran haben, dass sich möglichst viele der russischen Armee entziehen?Bisher wird offenkundig versucht, Lösungen zu finden, die sich im Rahmen der existierenden Rechtsprechung bewegen. Man scheut sich davor, russische Militärdienstentzieher als Gruppe zu definieren, für die eine großzügigere Regelung gelten soll. Vermutlich ist das ein Versuch, in der Asylrechtsprechung kein neues Tor zu öffnen: Dann könnten ja andere auf die Idee kommen, dass das auch für sie gilt. Man möchte möglicherweise einen Präzedenzfall vermeiden.Die ukrainische Gruppe „Vitsche“ protestierte kürzlich vor dem Bundestag gegen die Idee, das Asyl für russische Reservisten und Rekruten auszuweiten. Auf ihrem Banner stand: „It’s not only Putin, it’s Russians“. Können Sie das nicht verstehen?Ich kann nachvollziehen, dass Betroffene eines solchen Angriffskrieges so eine Position nach außen tragen. Sie erleben, dass es hierzulande Russen gibt, die auf der Seite Putins stehen. Und mitunter geht von ihnen eine Gefahr für Ukrainer aus, die hier leben. Aber es gibt andererseits Russen und Russinnen, die sich auch hier offen gegen den Krieg stellen, ukrainische Flüchtlinge unterstützen und Bündnispartner sein könnten. Mit ihrer Ablehnung nimmt sich Vitsche die Chance zur Zusammenarbeit. Und bei Militärdienstentziehern und Deserteuren wäre die Wahrscheinlichkeit größer, Bündnispartner zu finden.Ihren Verein gibt es schon viel länger als den Krieg in der Ukraine – was hat der bisher gemacht?Ab Mitte der 1980er Jahre haben wir zunächst vor allem zu Südafrika gearbeitet: Zur Zeit der Apartheid waren dort nur Weiße wehrpflichtig. Einige verweigerten den Militärdienst, um die Apartheid nicht zu unterstützen, und wurden dafür zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Die haben wir auf internationaler Ebene unterstützt. Dann stellten wir fest, dass von ihnen auch einige nach Deutschland gegangen waren, um Asyl zu beantragen – was abgelehnt wurde. Dabei hatte die UNO Soldaten und Polizisten zur Dienstverweigerung aufgerufen. Das haben wir aufgegriffen.Und in den Folgejahren?Da haben wir Menschen in und aus weiteren Ländern unterstützt, die sich Kriegen oder Militärdienst entzogen: aus Jugoslawien und der Türkei zum Beispiel. Heute sind wir viel mit Eritrea beschäftigt, wo das Militärsystem Männer und Frauen rekrutiert und von wo sehr viele abhauen. Auch aus den USA, Israel und Ägypten gab und gibt es welche, die nicht mitmachen wollen bei Militär und Krieg – und die vor einer Einberufung fliehen.Können die Deserteure und Militärdienstentzieher den Krieg in der Ukraine beenden? Oder zumindest entscheidend Einfluss auf seinen Verlauf nehmen?Manchmal passiert es, dass nur noch so wenige Soldaten da sind, dass ein Krieg nicht mehr führbar ist. Aber das ist selten der Fall. Das heißt jedoch nicht, dass die russischen Militärdienstentzieher nicht auch etwas ausgelöst haben: Sagen wir mal, 150.000 sind abgehauen; jeder von denen hat Familie, Bekannte und Freunde, das strahlt natürlich auf die Gesellschaft aus.Abhauen ist immer ein Zeichen, dass es etwas anderes gibt, als zum Militär zu gehen.Ja. Und das heißt nicht, dass Deserteure oder Menschen, die sich anderweitig entziehen, alle ganz tolle Leute sind. Doch was sie tun ist immer ein Schritt der Emanzipation, weil es ein Ausstieg aus dem Befehls- und Gehorsamsprinzip des Militärs ist. Und das signalisiert auch anderen: Es gibt eine Alternative zur Kriegslogik.