Die Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Linken-Vorsitzende Martina Renner
Foto: Jürgen Heinrich/Imago Images
Im Juli 2020 erhielt die Linken-Bundestagsabgeordnete Martina Renner eine Drohmail, die mit „NSU 2.0“ unterzeichnet war – genau wie die hessische Linken-Politikerin Janine Wissler, die Anwältin Seda Başay-Yıldız und die Komikerin Idil Baydar. Es steht der Verdacht im Raum, dass Polizisten Beihilfe leisteten, indem sie die Daten der Adressatinnen abfragten und weiterleiteten.
der Freitag: Frau Renner, vertrauen Sie der Polizei noch?
Martina Renner: Schwierig. Als Betroffene wünschen wir uns natürlich, dass das aufgeklärt wird und der oder die Täter verurteilt werden. Das aber kann keine andere Institution tun als die Polizei im Zusammenspiel mit den Staatsanwaltschaften. Zugleich gibt es berechtigte Gründe – sowohl in Berlin
taatsanwaltschaften. Zugleich gibt es berechtigte Gründe – sowohl in Berlin als auch in Hessen – für erhebliches Misstrauen gegenüber der Polizei. Daher fordere ich, dass der Generalbundesanwalt übernimmt und das Bundeskriminalamt mit den Ermittlungen beauftragt.Haben Sie eigentlich noch einen Überblick über die vielen Fälle rechter Umtriebe bei der Polizei?Nein. Es gibt ja fast jeden Tag neue Berichte – man verliert den Überblick.Laut dem jüngst vorgestellten Lagebericht Rechtsextremismus in Sicherheitsbehörden gibt es derzeit 377 rechte Verdachtsfälle, oft im Zusammenhang mit Chatgruppen. Was ist deren Funktion?Man kann dabei drei Typen unterscheiden. Erstens jene Gruppen, die innerhalb der Polizei aufgesetzt werden und in denen Beamte und Anwärter sich austauschen. Zweitens Chatgruppen, in denen Polizisten Teil sind, die den Fokus aber nicht nur auf die Polizei legen. Das trifft auf die Chatgruppe zu, die im Juni in Berlin aufgedeckt wurde und in der sowohl Polizisten als auch andere extreme Rechte, darunter ein AfD-Kommunalfunktionär, organisiert waren. Da ging es unter anderem um die Weitergabe von Polizei-Interna. Und drittens Chatgruppen, die im Zusammenhang mit dem Verdacht auf Rechtsterrorismus entdeckt wurden, Stichwort „Nordkreuz“.Der Bundesinnenminister rief nun dazu auf, jeden Verdachtsfall zu melden ...Mir ist bei den bislang aufgeflogenen Chatgruppen kein Fall bekannt, der dadurch ans Licht kam, dass sich seitens der Polizei der Problematik aktiv angenommen wurde. Die Fälle sind entweder Zufallsfunde – in NRW etwa ging es um Geheimnisverrat aus der Polizei an die Medien im Zusammenhang mit der sogenannten Clan-Kriminalität. Oder es gab Whistleblower wie in Berlin. Ich frage mich, was wäre, wenn man sich dem Problem systematisch zuwenden würde. Was wir betrachten, ist ja im Grunde nur das Hellfeld.Seehofer bleibt bei der Meinung, das Problem sei nicht strukturell.Wer so etwas behauptet, hat entweder keine Ahnung vom Gegenstand oder will das Ausmaß des Problems verschleiern. So werden wir die Serie von bekannt werdenden Fällen rechter Netzwerke in den Behörden nicht beenden.Was bedeutet „strukturell“ in diesem Kontext eigentlich?In nicht wenigen Fällen sind die Vorgesetzten selbst Teil der rechten Chatgruppen. Das verweist auf ein problematisches Betriebsklima. Eine andere Frage ist, wer überhaupt zur Polizei geht. Die ist ja mitnichten ein Spiegelbild der Gesellschaft, wie es oft heißt. Sie ist weißer, männlicher und politisch weiter rechts als der Bevölkerungsdurchschnitt. Hinzu kommt ein gefährlicher Korpsgeist, der Veränderung verhindert und eine tradierte und fest verankerte Abneigung gegen links.Placeholder infobox-1In den Ermittlungen um die seit Jahren nicht aufgeklärte Neuköllner Brandserie in Berlin wurden zwei Staatsanwälte abgezogen, weil sie als befangen gelten. Wenn sich solche Instanzen als unzuverlässig erweisen – was kann uns vor der Polizei und ihren rechten Zirkeln schützen?Da wir keine unabhängige Ermittlungsinstanz außerhalb der Polizei haben, bleibt im Moment nur zu fordern, dass die existierenden Ombudsstellen mit einer eigenständigen Ermittlungskompetenz ausgestattet werden. Dort, wo wir wissen, dass die örtlichen Strukturen der Polizei Teil des Problems sind, müssen Ermittlungen an eine andere – etwa: bundesweite – Struktur übergeben werden. Das sind aber Hilfskrücken, mit denen wir das Grundproblem nicht aus der Welt schaffen: nämlich dass es keine unabhängige Instanz gibt, die ermitteln darf.Ich kann mir kaum vorstellen, dass eine unabhängige Instanz in der Lage wäre, von außen den polizeilichen Korpsgeist zu durchbrechen.Das sicherlich nicht. Aber es gibt etwa in Großbritannien Erfahrungen mit unabhängigen, externen und mit Befugnissen ausgestatteten Ermittlungen, die zum einen klar die Probleme benennen – da ging es um rassistisches Handeln aus Reihen der Polizei – und dann auch Druck für Strukturveränderungen entfalten konnten.Warum kommt gerade jetzt so viel ans Licht – ist die Polizei nach rechts gerückt oder ist die Aufmerksamkeit gewachsen?Vielleicht stimmt ja beides. Wir erfahren mehr, weil die Sensibilität gewachsen ist. Dadurch dringt mehr an die Öffentlichkeit, was andere ermutigt, Missstände bekannt zu machen. Dazu kommt, dass der Rechtsruck der letzten Jahre sich auch in den Behörden vollzieht, dass es Kreise gibt, darunter Polizisten, die in der Vorstellung leben, der Staat habe die Kontrolle verloren, es gebe eine Umvolkung, man müsse sich bewaffnen, und die auf die Zerstörung der Demokratie, den Bürgerkrieg hinarbeiten.So wie „Nordkreuz“?Ja. Und da geht es nicht nur um die Vorbereitung rechtsterroristischer Anschläge. „Nordkreuz“ hat 50.000 Schuss Munition abgezweigt – das ist die Aufmunitionierung einer rechten Bürgerkriegsarmee.Wenn es so dramatisch ist, weshalb fordert die Linkspartei dann nicht, wie beim Verfassungsschutz, die Auflösung der Polizei?Der Verfassungsschutz hat als Geheimdienst viele Möglichkeiten, in die Grundrechte einzugreifen: Abhören, Überwachen – und zwar schon bei Verdacht ...Die Polizei nicht?Die Polizei verfügt auch über Befugnisse, mit denen sie in die Grundrechte eingreift, da gibt es aber häufig den Richtervorbehalt. Zweitens das Legalitätsprinzip: Die Polizei darf nicht selbst Straftaten begehen, der Geheimdienst schon. Auch muss die Polizei zum Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel dem Parlament Bericht erstatten. Alles noch verbesserungswürdig, aber grundsätzlich anders aufgesetzt als beim Geheimdienst.Munition horten dürfen Polizisten allerdings auch nicht, es passiert trotzdem. Und beim Thema Racial Profiling wird gesagt: gibt es nicht, weil verboten ...Deshalb bräuchte es – neben der viel diskutierten Studie zu Rassismus bei der Polizei – eine externe Untersuchung der polizeilichen Befugnisse und Vorschriften, um zu klären, inwiefern diese Grundlagen legen für Racial oder Social Profiling. Außerdem muss auf der Ebene der Konsequenzen etwas passieren: Im Rahmen der „Nordkeuz“-Ermittlungen wurde ein Beamter vom LKA zum Verfassungsschutz versetzt; es gibt Polizisten, die nach rechten Vorfällen als Ausbilder tätig sind. Absurd! Solche Beamte müssen aus dem Dienst entfernt werden.Die Polizei tritt einem Teil der Bevölkerung – People of Color, armen Menschen – permanent bedrohlich gegenüber. Die Linkspartei diskutiert über eine bürgernahe und demokratisierte Polizei. Das klingt naiv.Ob eine Demokratisierung möglich ist, zeigt sich, wenn man es versucht. Etwa indem man der Polizei im Bereich des Gefahrenabwehrrechts Möglichkeiten nimmt, wahllos zu kontrollieren, oder an die Frage der Bewaffnung rangeht: Warum ist es nötig, in Versammlungslagen Pfefferspray und Hunde einzusetzen? Dann kann man bilanzieren, ob es funktioniert oder ob es so viel Inneres in dieser Struktur gibt, dass man an Grenzen kommt. Der Antrag des Parteivorstands zur Demokratisierung der Polizei spiegelt den Stand der Debatte wider – die ja weitergeht: In den USA wird im Zuge von Black Lives Matter über den Abzug von Mitteln von der Polizei diskutiert.Teilweise wird gar deren Abschaffung ausprobiert, zum Beispiel in Minneapolis. Wie finden Sie das?Wir sollten da hingucken. Ich kann mir vorstellen, dass man die staatliche Aufgabe der Polizei, Strafverfolgung, anders umsetzt und auch den Gedanken der Vergeltung infrage stellt. Im Moment gibt es in der Bundesrepublik jedoch keine starke außerparlamentarische Bewegung, die mit Vehemenz eine Abschaffung einfordert. Aber ich bin offen dafür, herauszufinden, wie das auch hierzulande aussehen könnte.Placeholder infobox-2
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