Recht auf Streik: Arbeitgeber im Klassenkampf

Meinung Post, Bahn, Öffentlicher Dienst: die Zeichen stehen auf Arbeitskampf. Nur so können Lohnabhängige in Krisenzeiten ihren Interessen Geltung verschaffen – der Arbeitgeberverband weiß das ganz genau
Ausgabe 09/2023
Hier war es die Berliner Stadtreinigung, Post und Bahn könnten folgen:  Beschäftigte legen die Arbeit nieder
Hier war es die Berliner Stadtreinigung, Post und Bahn könnten folgen: Beschäftigte legen die Arbeit nieder

Foto: picture alliance / Flashpic | Jens Krick

„Unser Arbeitskampfrecht wird zunehmend unberechenbar“, behauptete der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) Steffen Kampeter am Mittwoch gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Regelungen für den Arbeitskampf seien „daher überfällig“. Was er damit meint, schob der Lobbyist deutscher Privatunternehmen direkt hinterher: Ein Gesetz, das „klar macht, dass Arbeitskämpfe Ausnahmen bleiben sollen“.

Mit einem ähnlichen Einwurf hatte bereits wenige Tage zuvor die Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) die Gewerkschaften attackiert: Anlässlich der Ausstände an mehreren deutschen Flughäfen am vergangenen Freitag schimpfte ihre Bundesvorsitzende Gitta Connemann, das Streikrecht werde missbraucht und präsentierte ein Beschlusspapier mit konkreten Vorschlägen, um es einzuschränken. Unter anderem durch ein kaum je zu erreichendes Urabstimmungsquorum, (Warn-)Streikverbote in den ersten Verhandlungsrunden einer Tarifrunde sowie die Sicherstellung einer nicht näher bestimmten Grundversorgung in ebenfalls nicht näher bestimmten systemrelevanten Bereichen. Auf gut Deutsch: Arbeitsniederlegungen sollen bitte möglichst nicht mehr stattfinden und falls doch, sollen sie unbemerkt bleiben.

Auch wenn solche verbalen Angriffe auf das Streikrecht im Moment kaum ernsthaft politisch aufgegriffen werden dürften, heißt das nicht, dass das so bleibt. Wie schnell ein Gesetz zur Einschränkung des Streikrechts auf dem Tisch liegen kann, lässt sich derzeit in Großbritannien besichtigen. Dort finden gerade die größten Streiks seit Jahrzehnten statt. Beschäftigte verschiedener Branchen, darunter Eisenbahnbeschäftigte, Krankenwagenfahrer*innen, Lehrer*innen und zum ersten Mal in der Geschichte des Landes auch die Pflegekräfte im Gesundheitswesen sind oder waren kürzlich im Ausstand. Die Reaktion der britischen Regierung darauf: Unter anderem versucht sie, das Streikrecht in Bereichen der kritischen Infrastruktur zu beschneiden. Im Land Maggie Thatchers weiß man natürlich nur zu gut, dass es zum Repertoire des Klassenkampfes von oben gehört, die – potenzielle – Macht der Gewerkschaften direkt anzugreifen.

Auch hierzulande ist eine Streikwelle möglich

Mag sein, dass Arbeitgeberverbände und Wirtschaftsunion etwas früh dran sind mit ihrem Gezetere. Doch in ein paar Wochen könnten ver.di und die Eisenbahngewerkschaft EVG gemeinsam den Verkehr lahmlegen. Wenn es zu gleichzeitigen Streiks bei der Post kommt, wo die Urabstimmung über einen unbefristeten Vollstreik schon eingeleitet wurde, und der Öffentliche Dienst bald zum ersten Mal seit Existenz des TVöD nicht mehr nur warnstreikt, sondern auch in die Urabstimmung über einen Erzwingungsstreik geht – wenn auch nur ein Teil davon geschieht, werden die Meinungsspalten der Zeitungen schnell wieder voll sein mit Streik-Schelte und dem Ruf nach Mäßigung. Vorstöße wie der des BDA werden sich häufen und möglicherweise auch politisch übersetzt werden. Wir erinnern uns: Im letzten großen Streikjahr 2015 brachte die Große Koalition auf der Welle künstlicher medialer Empörung über gleichzeitig oder kurz hintereinander stattfindende Kita-, Post- und Bahnstreiks letztlich das Tarifeinheitsgesetz durch – das mit einer Einschränkung des Streikrechts einherging.

Dabei gibt es für eine Mäßigung seitens der Gewerkschaften gerade wirklich überhaupt keinen Anlass. Denn erstens liegen die Gründe dafür, selbstbewusst für hohe Lohnforderungen und, ebenso wichtig, kurze Laufzeiten einzutreten, nach Jahren der Reallohnverluste, nach Coronakrise und hoher Inflation auf der Hand.

Zweitens wird in Deutschland im internationalen Vergleich immer noch eher wenig gestreikt. Das liegt auch daran, dass die Möglichkeiten dafür schon jetzt vielfältig eingeschränkt sind. BDA-Geschäftsführer Kampeter mag mit seiner eingangs zitierten Forderung nach „überfälligen“ gesetzlichen Einschränkungen von Arbeitskampfmöglichkeiten anderes insinuieren. Aber beispielsweise die fast zwei Millionen Beschäftigten der kirchlichen Träger – immerhin nach dem Öffentlichen Dienst zweitgrößte Arbeitgeber im Land – dürfen de facto überhaupt nicht streiken. Absurderweise gilt für sie ein eigenes Arbeits(un)recht. Außerdem sind politische Streiks nicht erlaubt. Eine Streikbewegung wie jene, die sich im Nachbarland Frankreich gerade gegen die Rentenreform der Macron-Regierung stemmt, würde von den deutschen Gewerkschaften aus Angst vor juristischer Verfolgung und Schadensersatzforderungen gescheut.

Zeitgemäß wäre eine Ausweitung des Streikrechts

Ebenso verboten ist der Beamtenstreik, wogegen jedoch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) eine juristische Auseinandersetzung führt. Am 1. März wird sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg damit befassen. Vor Gericht verhandelt werden auch die Fälle von drei ehemaligen Beschäftigten des Onlinelieferdienstes Gorillas, die klären lassen wollen, ob das bestehende Verbot verbandsfreier, sogenannter wilder Streiks in Deutschland mit der Europäischen Sozialcharta vereinbar ist. Diese wurde von der Bundesrepublik ratifiziert und knüpft das Streikrecht nicht an Bedingungen wie Tarifverhandlungen oder den Aufruf durch eine Gewerkschaft. Um beide juristischen Auseinandersetzungen zu begleiten, aber auch zu mehr Mut und Konfliktbereitschaft der eigenen Gewerkschaften anzuregen, hat sich in Berlin erst kürzlich die „Kampagne für ein umfassendes Streikrecht“ gegründet.

Anders als die Vorstöße von der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände oder der Mittelstands- und Wirtschaftsunion sind Versuche, das Streikrecht zu erweitern, zeitgemäß und berechtigt. Denn die einfache Wahrheit ist doch: Beschäftigte brauchen eine starke Waffe, um ihren Interessen Geltung verschaffen zu können. Und die ist nun einmal der Streik. Ohne das Recht zum Streik wären Tarifverhandlungen nichts weiter als „kollektives Betteln“, hatte es das Bundesarbeitsgericht 1980 in Anlehnung an den Arbeitsrechtler Roger Blanpain in einem Urteil formuliert. Diese Aussage lässt sich auf alle Bereiche, auch jenseits von Tarifverhandlungen, übertragen, in denen Klasseninteressen aufeinanderprallen.

Das wissen natürlich auch die sogenannten Arbeitgeber. Dass sie gerade jetzt gegen das – ohnehin nicht sehr großzügige – deutsche Streikrecht schießen, darf insofern als positives Zeichen gedeutet werden, als es eine gewisse Nervosität angesichts der parallelen Tarifauseinandersetzungen bei Post, Bahn und Öffentlichem Dienst bezeugt. Ja, sehr viele Lohnabhängige könnten sich da formieren. Wegen des Fachkräftemangels haben sie noch eine zusätzliche Machtressource. Es ist nur zu hoffen, dass sich die Kolleg*innen und ihre Organisationen, die Gewerkschaften, dieser ihrer Macht ebenso gewahr sind wie die klassenbewussten Repräsentant*innen von BDA und MIT – und dass sie sie mit voller Kraft in die Waagschale werfen.

Für Sie oder Ihren Hasen

6 Monate den Freitag mit Oster-Rabatt schenken und Wunschprämie aussuchen

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden