Als Lustobjekt zu klein, als Schmuck zu blöd

Alltag Der Tante Emma-Laden heißt heute Bei Olja - russische, nah- und fernöstliche Händler haben eine ganz eigene Kultur des kleinen Geschäfts entwickelt

"Das Leben hat geklappt!!!" malt Buisinessfrau Olja auf russisch und grell rot mit viel Hingabe in das Ladenfenster - denn der Tag ist lang, der Laden leer und Olja ist ein Mensch der Tat.

Zu Unrecht beklagt man, dass die heimeligen Tante-Emma-Läden verschwunden seien, das stimmt nicht, sie leben fort, bloß unter anderen Namen, zum Beispiel als Tante-Olja-Laden. Die undankbare Aufgabe, die durch die allgegenwärtigen Discounter verdorbenen Kunden zum Kauf im Kleinen anzulocken, haben inzwischen großenteils Bundesbürger nichtdeutscher Herkunft übernommen. Dabei haben sich einige nationalbedingte Stileigenschaften herausgeblidet. So tragen die großen russischen Supermärkte, in denen unter anderem etwa sieben Sorten Kaviar und lebende Störe angeboten werden, nostalgisch-wehmütige Namen wie "Morgenröte", "Weinende Weide" oder auch schlicht und großartig: "Der Stern". Die kleineren russischen Geschäfte geben sich gern anheimelnde Frauen-Namen: Bei Olja. Bei Tanja. Bei Ludmilla. Ganz offensichtlich wird hier an die Tradition der deutschen Tante-Emma-Kultur angeknüpft. Damit allerdings ist die Verwandtschaft auch erschöpft, denn die russischen Tanten tragen hohe Absätze und mit falschen Diamanten geschmückte Strings, die aus den Jeans herausschauen, wenn die Emmas über einem Plastikeimer hocken, um für Kunden nach fetten, glitschigen Salzheringen zu schnappen.

Ebenso deutlich unterscheidet sich das Sortiment dieser Läden vom klassischen Milch-Zucker-Erbsensuppe-Angebot, denn nicht danach sehnt sich das russische Berlin. Ziemlich genaue Auskunft über die Nöte der ausgewanderten Seelen gibt zum Beispiel der Versandkatalog Die russische Kultur, zu dem Olja greift, wenn einer der spärlichen Kunden sie mit einer unerwarteten Anfrage überrascht. Man kann nur rätseln, was Sonnenblumenkerne, die Kuscheldecke "Kumsung" und Schwarztee "Columbus" mit Kultur zu tun haben. In der ehemaligen Sowjetunion war die Kultur der Propaganda unterworfen. Sucht man nach einem gemeinsamen Nenner für die vielfältigen Kulturangebote im heutigen Russland, kommt man wohl vor allem um das Wort "Rausch" nicht herum. Denn schon der Umschlag des Versandkataloges Die russische Kultur verkündet mit seinen flatternden Herzen, was dann auch im Heft selbst aufs Grandioseste eingelöst ist: Die Liste der angebotenen Buchtitel zum Beispiel klingt umwerfend, wenn auch etwas eintönig: Zarte Leidenschaft, Wilde Leidenschaft, Freche Leidenschaft, Blindwütige Leidenschaft und so weiter 30 Seiten lang. Für Höhepunkte in diesem monotonen Wellenschlag der Passionen sorgen orgastische Ausrufe wie: "O! Susanna!" oder "O! Baron!".

Im Schaufenster bei Olja tummeln sich unzählige Wodkas, kleine deutsche Fahnen, bunte russische Tücher, Gottesmütter in Taschenformat, Holzlöffel, Holzpuppen - wie viel gibt es, was wir nicht brauchen! Oder vielleicht doch? Eines Abends begegne ich Maxim, einem Studienkollegen aus Leningrad, heute ein glühender Berliner, wie er mit eine Plastiktüte unsere Straße hinuntereilt: "Pelmeni, von Olja, tiefgefroren, muss schnell nach Hause! Tschüss."

Diese klebrigen und sehr sättigenden Teigtaschen gibt es inzwischen im Tiefkühlregal jedes anständigen Supermarktes. Maxim aber kauft sie hier, bei Olja, wo neben Pelmeni Sonnenblumensamen, Buchweizen, Sauergurken, Fischkonserven, Stockfisch und Auberginenkaviar angeboten werden. Zu diesen Fossilien aus einer fernen Zivilisation noch eine kleine Portion fetter Tratsch - und schon wird das banale Anschaffen des täglichen Abendbrots zu einem kleinen Seitensprung in die Kindheit. Das ist eigentlich das wahre Angebot einer richtigen russischen Tante Emma, nicht etwa Salzgurken oder Coffee to go.


Die vietnamesischen Läden haben sich auf ein Garten-Eden-Sortiment spezialisiert - Obst oder Blumen, jeweils kombiniert auf eigenes Risiko mit Geschenk- und Souvenir-Handel. Irgendwie schaffen es die vietnamesischen Unternehmer, jede Ecke, sogar eine Imbissbude bei einer trostlosen Raststätte auf dem Weg nach Königswusterhausen, zum kleinen Paradies zu stylen. Im Blumengeschäft bei uns um die Ecke ist diese Kunst ins Unermessliche gesteigert. Den konventionellen Blumen sind geschickt einige Imitate beigemischt, so dass die Farbenpracht ihresgleichen sucht, künstliche Brunnen plätschern (auch sie natürlich zu kaufen), dazwischen drapiert grell geschminkte, transparente Jesusfiguren und Madonnen, die sich von der Innenseite her beleuchten lassen. Und das in Zeiten, wo sogar anständige deutsche Lokale kaum noch wagen, ein Kruzifix an der Wand anzubringen. Wer will da noch über mangelnde Integrationswilligkeit von Neuankömmlingen aus anderen Kulturen schimpfen?

Die vergoldeten Plastikkatzen, die freundlich mit der Pfote winken, scheinen in dieser Saison ein absoluter Renner zu sein. Nicht schlecht sind auch die flauschigen Haustiere mit ihren grünen Glasaugen - so weich in der Hand. Die hagere Verkäuferin springt sofort auf mich zu:

- Sie sind echt, echtes Fell, Naturell!

- Kaninchen? - frage ich hoffnungsvoll.

- Aber nein! - beteuert die zierliche Frau beleidigt. - Nein, Katzenfell, gucken sie doch selbst - und sie schiebt mir das Schmuckstück unter die Nase.

Ein anderes prachtvolles Souvenir ist die Uhr auf dem Glaspodest, in dem sich ein Band mit Sehenswürdigkeiten aus der ganzen Welt dreht. Ein exzellentes Geschenk für Mitbürger, die ohne Fernsehen nicht einschlafen können, bei laufendem Fernsehen, aber erst recht nicht. Das Gerät kostet allerdings ein Vermögen von 29 Euro.

Und das, gucken Sie, das ist auch sehr schön, - die Verkäuferin weist auf eine Herde von Gummischweinen, umzingelt von einer Schar von Gipsschäferhunden. In der Liebe zu Schwein und Hund haben die Vietnamesen sogar die Deutschen überholt. Die anscheinend nicht geheuchelte Freundlichkeit der Verkäufer kompensiert die offensichtlichen Defizite in Sprache und Landeskunde. Unter dem Regal mit hübschen gelben Frühlingsblumen ist ein Schildchen aufgehängt, auf dem mit der unsicheren Hand eines Erstklässlers geschrieben steht: "Nazi 1 Euro".


Im Geschäft "Star" findet man keine Schweine und keine Schäferhunde, die Wasserpfeifen ohne Ende deuten darauf hin, dass der Ladenbesitzer aus dem Orient stammt. Der Profil seines Gewerbes lässt sich schwer definieren. Drogerie? Elektrogeräte? Haushaltswaren?

Socken, Kuchenteller, Tee, Fernseher, Reis, Büstenhalter, Cous-Cous, CD Player, Kuschelkissen und Wasserbrunnen - diese diversen Gegenstände sind mit rastlos und rot funkelndem Elektroweihnachtsschmuck umstrickt, um die Aufmerksamkeit der Passanten einzufangen. Geschafft: ich bleibe stehen und spüre schon warmes Atmen hinter meinem Ohr. Eine ältere, korpulente Dame in grobgestrickter Weste und mit einer Tasche auf Rädern, die rastlos sicher bereits mindestens 112 Mal hier vorbei schlenderte, ist stehen geblieben und schaut eifersüchtig über meine Schulter in das Schaufenster. Kurz darauf bleibt auch ein Ehepaar stehen. Ich halte den Atem an - hinter meinen Schulten hat sich inzwischen ein kleiner Menschenauflauf von sieben Personen gebildet. Der Ladenbesitzer wittert Erfolg und springt aus seinem Hinterhalt hervor. "Tschuldigung!" ruft plötzlich ein Bauarbeiter mit einem Wagen voller Steine. Die Menschen hinter meinem Rücken ziehen sich eilig zurück, als ob sie bei etwas Unanständigem ertappt wurden. Der Ladenbesitzer verschwindet im dunklen Schoß seiner Schatzkammer, enttäuscht - wie eine Spinne, der die fette Fliege im Netz entwischt ist.

"Mein Gott, wer auf der ganzen Welt wird all diesen Schrott kaufen?" denke ich. Die Antwort kommt ein paar Tage später, als die Kälte wieder zuschlägt und meine Handschuhe verschwunden sind. Da der Kalender April zeigt, sind die Wintersachen inzwischen restlos aus den Kaufhausregalen verschwunden. Jetzt schlägt die Stunde von "Star", das mir gefütterte Handschuhe aus China für sehr attraktive 3.99 Euro anbieten kann, genau solche, die im Kaufhaus 13.99 kosteten. Während ich die Münzen sortiere, sehe ich in privilegierter Position direkt neben der Kasse eine ferkelrosige handflächengroße Gummiblondine auf einem Klo sitzen. Die Figur ist liebevoll bemalt - es ist sogar das schwarze Muster auf dem roten Reizhöschen zu erkennen, das auf Höhe ihrer Knie hängt. Auf der korpulenten Nase der Blondine sitzt eine Sonnenbrille, mit etwas zu nah aneinander gestellten Gläsern. Diese Enge betont die Breite der Frau - ihre Hüften schwellen über die Kloränder hinaus und verleihen der Gestalt eindeutige Ähnlichkeit mit einem Schwein. Sie hält ihr Handy stolz in die Höhe wie die Freiheitstatue ihre Fackel und lacht. Ist das nun der misslungene Versuch, ein nettes Schmuckstück zu schaffen, oder der gelungene Versuch, Blondinen zu verarschen? Als Lustobjekt zu klein, als Schmuck zu blöd - wozu ist sie da, was ist sie, ein Souvenir oder ein Spielzeug? Verfressen, schamlos, arrogant, selbstverliebt - trefflich demonstriert die plumpe Figur Nebenwirkungen der Moderne auf die westliche Frau. Vielleicht ist das hier eine diskrete Antwort auf die berüchtigten Mohammed-Karikaturen?

Als ich am nächsten Tag unter dem Vorwand, noch ein Paar Handschuhe auf Vorrat zu kaufen, wieder das "Star" besuche, ist die Figur weg. Auf meine Frage nach ihr, heißt es dünkelhaft, sie sei verkauft. Da hätte ich schon gestern zugreifen müssen. Der Verkäufer ist sachlich und trocken, fast unfreundlich - die Handschuhe gehen offensichtlich weg wie belegte Schnittchen und scheinbar ist der kommerzielle Erfolg dem Verkäufer zu Kopf gestiegen. Da hockt er und bläst die unsichtbaren Flügel auf.

Am nächsten Tag scheint dann wieder die Sonne und alles ist wie sonst. Mit krummem Rücken sitzt der Mann hinter den nervös funkelnden Lichterketten an der Kasse und schaut durchs Glas auf die Straße. In seinen Augen die leicht beleidigte Frage: Was soll ich denn noch tun?

Der Kunde ist launisch, die Verkäufer aber haben Geduld. Irgendwann werden alle diese Kostbarkeiten ihren Käufer und ihre Käuferin finden, die flauschigen Katzen ihre Schrankvitrine, die Gipshunde ihren Fernseher und die winkenden Kater ihre Fensterbank. So wie eine Herde von lustigen vietnamesischen Gummischweinen ihr Zuhause bereits fand, im fröhlichen Schaufenster unseres Metzgers, der sich anpreist als "Ihr deutscher Fleischer von nebenan". All dies Gerede über den Kampf der Kulturen ...


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