Boris lehnt an der Marmorfassade und döst. Zwischen zwei Kartonplatten eingeklemmt, sieht er aus wie eine riesige Schildkröte oder ein armer Ritter. "Die Welt des Second Hand", mit dieser Parole soll er Passanten vom Newski Prospekt in den Kleiderladen locken. Es ist drei Uhr, die Schicht ist für heute zu Ende, Boris kassiert seinen Lohn - etwa drei Euro für fünf Stunden, wir laufen den Newski entlang. Kennen gelernt habe ich Boris, als er die Obdachlosenzeitung verkaufte. Der Weg nach Hause heißt sie jetzt, noch im Mai hieß sie Am Boden, Na dne, nach dem berühmten Theaterstück von Gorkij. "Der Name war nicht gut, literarisch zwar, aber irgendwie erniedrigend, ich habe mich manchmal unwohl gefühlt, wie ein Paria, aber das bin ich nicht." Ohne Schild fällt Boris unter Passanten nicht auf. Blasses Gesicht, Second Hand Outfit, ein durchschnittlich akkurater Mann Mitte 30, die verdunkelte Rauchglas-Brille und ein Zopf verleihen ihm sogar einen alternativen Rocker-Flair. "Richtig schwierig ist es, sich in Ordnung zu halten; mir bedeutet das sehr viel. Wenn ich ordentlich aussehe, kann ich es gelegentlich zu einem Waschbecken schaffen - das kann in einer Mensa, einer Poliklinik oder sonst wo sein."
Wir laufen den Newski entlang. Sei stark, bleib cool strahlen die Werbeposter in übermenschlich großen Dimensionen. Heute hat Boris in einem Treppenhaus in Kupcino, einem Schlafviertel im Südwesten von Petersburg, übernachtet. "Das ist mein Platz. Früher schlief ich da, wo mich die Nacht erwischte. Seitdem ich von Bewohnern eines Hauses im Schlaf überrascht, zusammengeschlagen und beraubt wurde, versuche ich immer bei mir zu schlafen. Dort kennen mich die Leute, sie wissen, dass ich nicht gefährlich bin, und dulden mich. Ich würde ja gern hier in unserem Asyl schlafen, doch die Plätze sind knapp". Wir nähern uns inzwischen unserem Ziel - der Obdachlosen-Herberge am Sinopskaja Ufer 26.
Unerwartet nach der eleganten Uferpromenade, fällt der Blick plötzlich auf verstümmelte Fassaden im Hof, dessen Hintergrund in sattem Unkraut versinkt. Da ist die "Nozlezka", das "Nachtasyl", ein halb ruiniertes Gebäude mit einem ausbrannten Treppenhaus. Im Haus gibt es Wasser, Strom, Heizung. Etwa 70 dürftige Schlafplätze sind auf gut ein Dutzend Wohnungen verteilt. Außer Übernachtung bietet das Zentrum auch provisorische Registrierung, Zeitungen zum Verkauf, individuelle Beratung und manchmal Gruppenveranstaltungen - für heute ist ein Training für die Zeitungsverkäufer angekündigt, unter dem Motto "Finde deinen Stil".
Eine bunte Gesellschaft hat sich im Wohnzimmer der Herberge versammelt, um Erfahrungen mit dem Zeitungsverkauf auszutauschen. Zwei Jungs Mitte 20 - die verstümmelte Kindheit ist beiden ins Gesicht geschrieben. Eine schweigende Oma mit einem bunten Kopftuch, einem Alte-Frauen-Mantel, kaputten Stiefeln. Sie sitzt gerade, auf ihrem Schoss hält sie mit beiden Händen eine Aktentasche mit der Aufschrift "Raiffeisenbank". Sie heißt Nina und hat ihr Zuhause in den dunkelsten Jahre der Perestroika - Mitte der Neunziger - ohne Kampf verloren. Anstelle ihrer Zimmer im Zentrum sollte sie eine neue Wohnung an der Peripherie im Grünen und noch Geld dazu bekommen, dieses Angebot machte ihr eine Immobilienfirma. Nina konnte sich nicht vorstellen, dass jemand, der eine "staatliche Lizenz" hat, ein Gauner sein kann. Doch so war es. Aus ihrer Wohnung musste sie ausziehen, als Gegenleistung bekam sie lediglich eine Morddrohung.
In der Regel sind die Betroffenen juristische Analphabeten, die über die Spielregeln nicht aufgeklärt sind. Einen Anwalt können sie sich nicht leisten, oft haben sie keine Verwandten. Die Makler, Dealer oder wie sie alle heißen, kalkulieren das ein und handeln fast ohne Risiko geschnappt zu werden. Massive Einschüchterung hat so meist Erfolg. Etwa drei Prozent aller Petersburger Obdachlosen haben ihre Wohnungen durch schmutzige Immobiliengeschäfte verloren. Diese Tendenz lässt in letzter Zeit nach, doch für die Betroffenen gibt es kein Zurück.
Wir sitzen im Kreis, manche haben sich seit langem nicht gesehen, aber gelegentlich voneinander gehört - die Metropolennomaden sind durch ein unsichtbares Kommunikationsnetz verbunden - Anatolij erzählt gerade, wen er wo neulich gesehen hat. Er sitzt neben der alten Nina, hat strahlend blaue Augen und ein schüchternes, steifes Lächeln. Galina dagegen trägt ihren Kopf hoch; grauer eleganter Mantel, silbern-schimmerndes Halstuch - sie und Tatjana haben aus dem Angebot von gebrauchten Kleidern hier im Zentrum das Beste gemacht, die beiden sehen richtig schick aus. Zusammen mit Boris sind sie der aktive und selbstbewusste Teil der Gruppe. Die Bilanz des heutigen Arbeitstags ist mager, der Kreis ist aufgewühlt - seit Juni erscheint die Zeitung unter dem anderen Namen, sieht anders aus, die alte Kundschaft eilt einfach vorbei.
Werbestrategien stehen auf der Tagesordnung. "Eine Zeitung für die Klugen, neue Ausgabe, unter neuem Namen - Nachfolger des bekannten Am Boden" - führt einer der Jungs vor, wie er sich den Verkaufsslogan optimal vorstellt. Die Runde ist kritisch: "Du bietest eine Ware an, aber du benimmst dich wie ein Bettler.". Der Junge versucht es noch einmal, dann die anderen. Dennoch klappt es nicht viel besser. Kaum jemand ist imstande die Scham zu überspielen.
"Wie schaffst du das, wenn dich jeder beleidigen oder erniedrigen kann. Jeder Mensch, sei er schmutzig oder betrunken - wenn er ein Zuhause hat, ist er mit den anderen auf einer Augenhöhe. Ich bin das nicht, ich habe immer Angst!" sagt Anatolij. Galina, die Schicke, hat es geschafft, die Angst zu überwinden. "Seitdem ich mich überzeugt habe, dass ich etwas wert bin, hat mich keiner mehr angehalten. Ich versuche, gut auszusehen und sage mir ständig - bloß nicht vor den Bullen zittern, und sie machen mich nicht mehr an."
Eine offizielle Erlaubnis für die Verbreitung der Zeitung in der U-Bahn gibt es nicht. Bestenfalls schicken die Milizionäre die Obdachlosen einfach weg, schlechtestenfalls gebrauchen sie Gewalt. Schläge und Raub seitens der Gesetzeshüter sind keine Seltenheit.
Das Training ist zu Ende, der Tag aber noch nicht. Das Asyl ist fast leer - tagsüber bleiben nur kranke Menschen hier. Wir kochen Tee, Boris galt als ein schwieriger Jugendlicher früher, "ich habe meinen Eltern viel Kummer bereitet, sie haben sich meiner sehr geschämt." 1992 wurde er wegen Drogenkonsums verurteilt, und als er aus dem Gefängnis kam, hatte er keinen festen Wohnsitz mehr. Laut Statistik ist der Großteil der Obdachlosen in Russland nach einer Gefängnisstrafe auf der Straße gelandet. Am kürzesten jedoch ist der Weg in die Obdachlosigkeit aus einem Kinderheim - volljährige Bewohner haben zwar Anspruch auf eine staatliche Wohnung oder ein Zimmer, doch davon gibt es immer weniger. Auch der Anteil der Flüchtlinge an den Obdachlosen ist ziemlich hoch. Seit dem Zerfall der Sowjetunion sind Hunderttausende Menschen unterwegs - vertrieben aus den neuen Nationalstaaten oder einfach vor den Kriegen geflohen.
Boris geht vor, wir steigen die Treppe hinunter in den Hof. Das Büro der Asylverwaltung befindet sich der Herberge gegenüber in einem niedrigen Gebäude, im 19. Jahrhundert hätte es eine Handwerksscheune, oder ein Speicher sein können. Die abgekratzten Fassaden fallen nicht mehr auf. Eher umgekehrt, unpassend wirkt das von der Hofeinfahrt umrahmte Bild des gegenüber liegenden Newaufers, mit einer goldenen Zwiebelkuppel, die so anmutig das Licht der Abendsonne auffängt. Doch wir blicken in die andere Richtung: von Bauarbeitern aus dem Keller vertrieben, trägt eine schwarze Katze ihr Kleines die Treppe hinauf. "Das ist schon die dritte, die sich hier einnistet", kommentiert ein älterer Mann. Dann misst er mich mit einem Blick und zieht mich ins Büro: "Junge Dame, ich habe gerade eben eine tolle Jeansjacke gesehen, genau das richtige für Sie!" Im dunklen Korridor liegt auf dem Tisch ein Haufen gebrauchter Kleidung. Die jungen Mitarbeiter versuchen, Anatolij zu einem coolen Anorak zu überreden. Er gibt nach und sieht nun aus wie Henry Ford. Nun bin ich an der Reihe. Alexander, so heißt der alte Mann, selbst im Mantel à la Bogart, legt mir die Jacke an. Ich versuche, mich zu wehren, die Ärmel seien zu kurz, doch ich muss sie anziehen, und sie passt tatsächlich, auch die Ärmel.
Boris will unbedingt, dass Alexander die Geschichte über die Razzia noch einmal erzählt, diesmal für mich, denn Boris glaubt, dass die Journalisten allmächtig sind. Zumindest kann ich die Geschichte weiter erzählen: "Am 13. Mai dieses Jahres war ich beim Gemüsespeicher, da waren mehrere von uns, da kann man Stundenlohn bekommen. Dann kam Miliz und fing an, die Pässe zu kontrollieren. Natürlich war diese Razzia gegen uns gerichtet, denn, Orte wie dieser, wo die Obdachlosen sich versammeln, sind der Miliz sehr gut bekannt. Die Mehrheit von uns hatte uns keine Pässe, ich hatte die Registrierung von unserem Zentrum, der Milizionär aber hat sie zerrissen und sagte, dass das nur ein Scheißdreck sei. Nun musste ich in ihrem Wagen mitfahren. Es gab keine Fenster; wir wussten nicht, wo es hingeht. Sie haben uns ausgesetzt bei einer alten heruntergekommenen Kaserne im Wald. Dort wurden Obdachlose von mehreren Orten versammelt. Einige sind dort schon länger gewesen; mehr als zwei Wochen. Eigentlich gibt es genug Löcher im Zaun und praktisch keine Wache - bloß einen Milizionär. Doch es gab Essen dort, zwar schlecht, aber immerhin jeden Tag, deswegen sind viele erst einmal dort geblieben. Ein Kumpel von mir und ich, wir flüchteten. Zwar ist mir alles Geld weggenommen worden, dennoch muss ich den Bullen Gerechtigkeit widerfahren lassen - sie haben uns nicht geschlagen. Geschubst, ja, aber nicht geschlagen." Für die Razzia will Alexander niemand anklagen. Er ist dem Staat nicht böse und Putin persönlich sogar dankbar. "Putin ahnt einfach nichts davon. Das ist alles unsere regionale Führung; seit Putin an der Macht ist, ist doch alles besser geworden." Er glaubt, dass alles besser wird. Sein Wort in Gottes Ohr. Petersburg hat Schätzungen zufolge 60.000 Obdachlose, jährlich sterben hier 1.000 Menschen auf der Straße, in Höfen, Treppenhäusern.
Einen Tag später finde ich Boris wieder auf seinem Posten - Metrostation am Newskij Prospekt. Was hat er sich einfallen lassen, um sich rasieren zu können, frage ich mich, und Boris sagt: "Heute habe ich mich in der Universität frisch gemacht." Mit der neuen Zeitung läuft es immer noch nicht wie früher, heute hat Boris nur zehn Stück verkauft. Das sind 75 Rubel, umgerechnet zwei Euro. Reicht das? "Ich bin kein Fresser. Das ist in Ordnung."
Neulich war ich mit Freunden hier in der Gegend zu Mittag essen - für meine Sushi-Portion habe ich das Zehnfache von Boris´ Lohn ausgegeben. Es war sehr schön da. In Petersburg nämlich ist es in, Sushi zu essen.
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