Flammend rote Paprika

Alltag In Novi Sad geben das Mittagessen, die Markttage und die Paprikazeit den Takt des Lebens an. Die Riten des Alltags sind ein verlässliches Gerüst

Ich stieg die Treppe hinauf, einer serpentinenförmigen Blutspur folgend. In der zweiten Etage holte ich einen Mann ein. Wir blieben vor der gleichen Tür stehen. Vor sich hielt er etwas Großes, Schweres, in ein weißes Laken voller roter Flecken gewickelt und zeigte mit dem Kinn Richtung Klingel. Die Tür öffnete sich. Das war der Tag, an dem ich anfing, bei Milica Serbisch zu lernen, vor einigen Jahren in Novi Sad.

Novi Sad ist mit einer Viertelmillion Einwohnern die zweitgrößte Stadt Serbiens. Zu klein, um auf meinem Schulglobus verzeichnet zu sein, ist dieser Ort dennoch mehrmals zu Weltruhm gekommen - und immer auf dramatische Art. Vor dreihundert Jahren erzwangen österreichische Truppen hier einen Sieg über die Osmanen und die Stadt betrat mit Säbelgerassel die Bühne der Weltpolitik. Ihr letzter großer Auftritt 1999 wurde vom Blitzen der NATO-Bombenexplosionen illuminiert.

Das normale Leben in Novi Sad ist weniger spektakulär und erzählt anders von der Geschichte des Landes und den Menschen, die seit Generationen hier leben. Nicht nur in historischen Augenblicken.

Im Süden des ehemaligen Jugoslawien bewundert man Novi Sad immer schon als "kultiviert" im westlichen Sinne. Besucher aus dem Westen hingegen sehen malerische balkanische Anachronismen, Roma-Karren hinter dürren Pferden. Bemüht man sich sehr ums Exotische, bekommt man mitunter sogar noch einen Tanzbären an einer Kette zu Gesicht. Doch damit erschöpft sich das Klischee vom wilden Osten. Die Seele der Stadt ist verschlafen, bürgerlich und ruht in engen Gassen. In kleinen bunten Häusern, wie auch Milica eines bewohnt. Ein unsanierter Wiener Glanz im Taschenformat, der die Verwandtschaft mit anderen früheren Provinzen des k.u.k. verrät. Dieser Wiener Geist hat - wenn auch mit Verlusten - die sozialistische Zeit überdauert.

Alles, was aus dem Süden kommt, betrachten die Novi Sader mit einer Mischung aus Misstrauen und Überlegenheit. Belgrad steht für balkaneske Burleske. Novi Sad hingegen für Fleiß, Geranien und Ordnung - Europa.

Seinen Kaffee andererseits genießt man auf orientalische Art - ein besonderes Kaffeepulver, aufgekocht mit Wasser und Zucker in der "Dschezwa", einer Stielkanne aus Kupfer, Aluminium oder emailliertem Metall.


Milica holt ihre "Dschezwa" aus dem Schrank. Es ist früher Morgen, Milica ist als erste auf den Beinen, trinkt eine Tasse Kaffee, raucht eine Zigarette und genießt ein paar Minuten Einsamkeit. Dann beginnt ihr Tag. Sie läuft in den Laden gegenüber, um Milch und Brot für das Frühstück zu kaufen. Hier in Europas stillem Winkel gibt es sie noch, diese rustikale Spezies fürsorglicher Mütter, wie wir sie aus italienischen Schwarz-Weiß-Klassikern kennen. Sie sind hart, selbstbewusst und der Sache der Familienversorgung völlig ergeben. Ihr Tag kreist um das Essen, genauer, um das Mittagessen - den Höhepunkt des Tages. Um zwei Uhr muss das Menü fertig sein.

Die menschengroße Standuhr hat noch nicht sieben geschlagen, aber alles ist schon durchdacht: klare Hühnersuppe, hausgemachte Spätzle und gebackene Hühnerstückchen, marinierte Paprikaschoten und Kohlsalat. Bevor sie zum Markt aufbricht, überprüft sich Milica kritisch im Spiegel. Das Spiegelbild zeigt eine jener akkurat gekleideten, sorgsam frisierten, seriösen Damen, wie sie auch auf den Straßen von Paris, Berlin oder Krakau einkaufen gehen. Bei Milica geht dieses Bild eine seltsame Melange mit etwas Kühnem ein. sie ist in einem Jugoslawien groß geworden, das von Siegern gegründet wurde. Ihren Stolz auf den Triumph über den Faschismus haben ihre Eltern an die Kinder weitergegeben.

Zwei Kreuzungen von Milicas Haus entfernt beginnt das Treiben der Straßenhändler, die Strümpfe, Zeitungen, Batterien, Küchenschwämme feilbieten. Milica lässt sich nicht ablenken, hält Kurs auf den labyrinthischen Markt und betritt die überdachte Halle, wo es Fleisch, Fisch und Milch gibt. Die Tresen mit schneeweißen Bergen von Schichtkäse lassen sie gleichgültig: Ihre Milchfrau kommt dienstags erst auf den Markt, heute ist der Tag der Geflügelhändlerin. Milica kauft Huhn und die Verkäuferin reicht gleich eine Tüte mit hauchdünnen Eiernudeln dazu; sie weiß bereits, was die Kundin wünscht. Fachmännisch betrachtet Milica dann die Hechte, die nebenan auf Eisstücken ruhen, vergewissert sich, dass Forellen am Dienstag kommen und sich ihr Kauf für das Mittagessen in drei Tagen mit dem Ankauf von Käse verbinden lässt.

Draußen fällt ihr beim Anblick der Straßenhändler ein, dass sie noch Schnürsenkel besorgen wollte. Die meisten der fliegenden Händler sind Flüchtlinge, die in Novi Sad fast ein Drittel der Bevölkerung ausmachen. Durch den Krieg hierher verschlagen, kamen sie in den Neunzigern mit ihrem Hab und Gut auf Traktoren erst aus Kroatien, dann aus Bosnien, dann aus dem Kosovo. Gelegentlich murren die Alteingesessenen über die wilden Sitten der Neuankömmlinge, doch trägt die Stadt die Herausforderung mit Würde.

Milicas Vater, ein Slowene, ist auch als Fremder nach Novi Sad gekommen. Nach dem Krieg kam er aus Triest. Nicht als Flüchtling allerdings. Als überzeugter Antifaschist und Kommunist hat er im Krieg Tito persönlich gekannt. Und als Ingenieur hatte er später im neuen sozialistischen Staat alle Hände voll zu tun. Milicas Elternhaus hatte voller schwerer, mit Schnitzereien verzierter Möbel gestanden, auf jedem Stück eine hauchdünne Spitzendecke, wie Schnee. Eine große Standuhr hatte der Großvater aus Wien mitgebracht.


Adnan, Milicas Mann, war Bosnier - damals ein Jugoslawe. Seit es Jugoslawien nicht mehr gibt, fragt sich Milica, was nun eigentlich ihre Kinder sind. Bosnier? Serben? Was wäre gewesen, hätte Adnan noch die neunziger Jahre erlebt? Hätte ihn nicht ein Herzinfarkt erwischt, kurz vor Titos Tod. Adnans und Titos Tod fallen für Milica in eins. Seither ging es bergab. Mit dem neuen Staat will sie nichts zu schaffen haben. Sie spricht nicht gern von Politik. Milica lebt von dem, was sie aus der versunkenen Zivilisation mitgenommen hat. Wenn draußen schon alles zerfällt, soll wenigstens der Alltag ein System sein, das man planen kann. Ein Rückgrat aus kleinen Gewohnheiten, ein verlässliches Gerüst von Regeln und wiederkehrenden Abläufen: Bohnensuppe am Freitag, Hühnersuppe am Samstag, Gäste - weiße Tischdecke, sonst eine karrierte. Aber immer ist sie gestärkt.

Milica kämpft - auf ihre Art. "Für diese Taugenichtse", verächtlich zeigt sie mit dem Daumen nach oben, "soll mein Sohn in den Krieg? 1994 bin ich bis zum Kommandanten gegangen. Lassen sie gefälligst die Finger von meinem Sohn. Ihn kriegen Sie nur über meine Leiche!"

"Und er?"

"Hat natürlich geschrieen, mit den Füßen gestampft."

" Und Sie?"

"Ich bin auch Patriotin, nehmen Sie mich!"

"Und er?"

"Du kennst ja mich, ich bin zäh, mich kriegen sie nicht unter".


Milica setzt den Topf mit dem Huhn auf den Herd, deckt den Küchentisch für das Frühstück der Kinder, die bald aus den Federn sind, und eilt zur Tür, um einen Kunden zu empfangen. Sie gibt Nachhilfestunden, aus Leidenschaft und weil die Löhne der Kinder kaum zum Leben reichen. Nach dem Unterricht fegt sie die Lehrbücher vom Tisch und ersetzt die Spitzendecke durch ein kariertes Tischtuch - das Mittagessen rückt näher.

Die Tochter bummelt durch die Wohnung, ein MP3-Hörer am Ohr, der Sohn sucht nach Fußballutensilien. Milica springt ihm zur Hilfe und vergewissert sich, dass er nach dem Fußballtraining auch ja direkt nach Haus kommt.

Punkt zwei steht eine dampfende Suppenschüssel auf dem Tisch, eine Backform mit Hühnerextremitäten. Im Spätsommer auf Vorrat gebackene und eingelegte flammenrote Paprikaschoten mit abgezogener Haut wälzen sich in Öl- Essig- Knoblauchsauce. Daneben Kohlsalat mit saurer Sahne und Kochkartoffeln.

Als das Geschirr abgeräumt ist, setzt Milica die Brille auf und greift zu ihren Stricknadeln, um nach drei Minuten in den Schlaf zu fallen. Es ist Ruhe. Nur die Wiener Uhr tickt etwas zu laut. Schwarz, zeitlos, elegant.

Im Wandschrank ruht die Familiengeschichte, sorgsam übereinander gelegt: ganz unten die handgewebten groben weißen Tischdecken mit schlichten roten Streifen am Rand, Batistnachthemden, vergilbte Spitzendecken. Die Schichten der sechziger Jahre sind bunter, die fröhlichen synthetischen Stoffe erzählen von Milicas glücklichsten Jahren. Im Traum sieht sie den Sommer, die Reise an die Adriaküste mit dem neuen Wohnwagen, da sind sie alle im Garten, vor dem neuen Ferienhaus.

Mein Anruf reißt sie aus dem Schlaf. Serbisch zu sprechen fällt mir mittlerweile gelegentlich schwer, doch ich gebe mir Mühe, meine Lehrerin nicht zu enttäuschen.

"Sehr gut, mir geht es blendend!", lacht sie in den Hörer. "Die Kinder sind gesund, die Ferien über waren wir zusammen, wir haben gut gegessen, das Haus war voll. Und übrigens, gleich kommt mein Bruder mit einer Sau, erinnerst du dich, als du zum ersten Mal bei mir warst?"

Ich erinnere mich. Deutlich. Er ging direkt vor mir in die Küche, lud seine Last auf den Tisch und zog das blutbefleckte Laken ab: Zum Vorschein kam die Hälfte einer längs zersägten Sau. Menschengroß. Wir gingen ins Zimmer hinüber, Milica führte mich ins Serbische ein. Doch während der ganzen Stunde dachte ich an nichts als an die zersägte Sau, und als der Unterricht zu Ende war, fragte ich, was mit ihr geschah: Milicas Bruder hatte das Tier von Verwandten auf dem Land geholt. Die Schenkel, sagte Milica, werden luftgetrocknet, als Schinkenvorrat bis zur nächsten Schlachtezeit, der Speck geräuchert, das Filet zum Braten eingefroren, der Rest des Schweins wird verwurstet. Nichts verkommt. Tagelang, sollte ich bald erfahren, beschäftigt sich Milicas Familie mit nichts anderem, als Wurst in Pellen zu stopfen. Bis in den letzten Winkel riecht es nach Schweinefett. Tagelang, wochenlang. Es türmen sich die Würste. Milica schätzt sie sehr.

Nach dem Schlachten und dem Räuchern und dem Wursten kommt erst einmal nichts, bis es Frühling wird. Dann werden junge Erbsen in die Tiefkühltruhe gefüllt, Obst in Gläser, Tomatensauce in Flaschen. Im Juli, in der Paprikazeit, wenn die Preise ihren Tiefpunkt erreichen, läuft ganz Novi Sad mit Säcken voller Paprika umher. Diese leuchtend roten Paprika, die gebacken werden und deren Haut ganz sachte abgelöst wird. Milica ist darin Meisterin.

Als ich den Hörer auflege, fällt mir ein, dass ich etwas vergessen habe. Nach den Parlamentswahlen hatte ich sie fragen wollen. Den serbischen Nationalisten, die SRS, die die stärkste Partei geworden sind. Wir haben das Thema ganz vergessen. Kurz überlege ich, ob ich nochmal die Nummer wählen soll. Ich tue es nicht.


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