Kleid auf Jeans

Alltag Streifzug mit meiner russischen Mutter durch Berlin

"Was, was hat sie dir gesagt?" fragt meine Mutter und zieht mich am Ärmel, als wir schon im Begriff sind, das Warenhaus zu verlassen. Ich bin entnervt und will weiter - obwohl ich ihre drollige Neugier sonst eigentlich mag. Seit zwei Wochen schon ist sie in Berlin zu Besuch, und noch immer ist die Zeit nicht reif für Museumsbesuche. Von morgens bis abends wandern wir durch die Stadt, irgendwelcher vorgeschobener Besorgungen wegen, steigen in Busse ein, fahren, steigen wieder aus und kaufen dies oder jenes ein. Mutter will nichts anderes tun. Das Durch-die-Straßen-schlendern sei für sie immer schon das eigentliche Ereignis gewesen, offenbart sie mir. Sie sieht tausend Dinge und interessiert sich für die winzigsten Details: "Die Bürgersteige sind so schön gepflastert, sie sehen aus wie Fischschuppen, findest du nicht? Hier guck mal, die Löcher in den Säulen, sind die von unseren Maschinengewehren? Aus jener Zeit? Ist die Friedrichstraße nach Friedrich Engels benannt? Und da, guck mal da" - wie ein Kind wütet sie mit ausgestreckter Hand vor einem Busfenster, "das Gemälde da, an der Wand!" - vor Ungeduld greift sie nach meinem Kinn und dreht mein Gesicht zurück - wie kleine Kinder es tun, wenn die Worte den Emotionen nicht hinterherkommen. In vielem kommt sie mir plötzlich kindisch vor, und ich muss zugeben, ich genieße den Rollentausch.

"Du, Kindchen, guck mal, was für Haare der hat, bedeutet das etwas? Ach, einfach so! Und alle mit Fahrrädern. Sieh mal, ein Kind vorne, ein Kind hinten in der Karre - das ist toll!" Die längst vertrauten Dinge, die meine Mutter faszinieren, sehe auch ich plötzlich wie zum ersten Mal: das Licht im Hauseingang, Autos, die beim Abbiegen warten um die Fußgänger vorbeigehen zu lassen, den Fahrplan an der Bushaltestelle. Als wir einem Grillwalker mit dampfendem Bauchladen und einem Sonnenschirm begegnen, grinsen wir uns verstohlen zu. "Das ist die freie Marktwirtschaft - eine Ich-AG", flüstere ich. Mit Unbehagen verlangsamen wir den Schritt an einer Ecke, wo ein stämmiger Kerl mit getragener Stimme russische Lieder singt. Er ist so schlecht, dass ich eine Gänsehaut bekomme und Mutter sichtbar zusammenschrumpft. Wir eilen fort. Zum Ausklang eines Tages, nach einem schweren russischen Abendbrot, gibt Mutter noch eine Zugabe: "Weißt du", murmelt sie vor dem Einschlafen, "das Kleid über den Jeans, das gefällt mir sehr gut, das muss ich unbedingt Tanja erzählen, das wäre was für sie, mit ihrem dicken Arsch und ihrer Vorliebe für enge Hosen, Kleid auf Jeans - genial!"

Manchmal ergreife ich die Initiative und versuche, sie auf unsere Wunder hinzuweisen: "Hast du bemerkt, dass sich bei uns im Haus alle grüßen?", protze ich und falle prompt durch, denn plötzlich fühlt sie sich in ihrem Stolz verletzt: "Das ist doch selbstverständlich, bei uns grüßen sich alle aus unserer Straße, und sogar die aus dem Viertel grüßen sich!"

"Bei uns" - das ist irgendwo in Russland, am Rande eines Ortes, der wie ein Baumkuchen um einen Eisenbahnknoten gewachsen ist und erst neulich den Titel "Stadt" bekommen hat. Weiße Häuser mit blauen Fensterläden, die sich an einer buckligen staubigen Straße aufreihen, die in ein Sonnenblumenmeer mündet. Ein asphaltierter Zentralplatz ist von majestätischen rosa und cremefarbigen stalinistischen Bauten a lá Akropolis umgeben. In einem früheren Leben diente er zum Promenieren, heute wird er allmählich von kleinen, bunten Verkaufsständen erobert. Hinter einem Kino mit Säulen reihen sich silberne Tannen, und alle Pfade in dem kleinen Park führen zum Herzen der Anlage, einem Denkmal, das eine ältere Frau darstellt, die zwischen ihren Söhnen sitzt - sieben Stück, und alle sind im Krieg gefallen. Es bezieht sich auf eine wahre Geschichte, die sich in unserem Ort ereignet hat, als er noch ein kleines Dorf gewesen ist. Auch heute noch führt der Großteil der Bewohner hier ein Bauernleben in eingezäunten Höfen mit Gemüsebeet, Holzstapeln und Klohäuschen hinten im Garten, mit kleinem Weinstock über der Sommerküche vorm Hauseingang, mal Bienen, mal Hühner und ein obligatorischer Hund, der an einer Kette ein erbärmliches Dasein fristet.

Meine Mutter ist zum ersten Mal im Ausland. Sie wagt es noch nicht, ohne mich spazieren zu gehen, also gehen wir zu zweit. Meiner Mutter, der ihre vertraute Umgebung wie ein fester Grund unter den Füßen fehlt, taumelt wie ein schwereloser Raumfahrer herum, mit tapsigen Schritten und skurrilen Bewegungen. Ich wirke neben ihr ungewohnt bodenfest, als hätte ich noch nie etwas anderes getan, als in Berlin souverän Busfahrpläne zu entziffern. Mit Begeisterung sieht meine Mutter mir dabei zu, wie ich mich auskenne und zurechtfinde hier in der Metropole, wie frei, wie weltläufig ich mich bewege.

Sie selbst scheitert schon am deutschen ABC, trotz des dicken Hefts, das sie stets mit sich führt, in das sie sorgfältig Alphabet und Ausspracheregeln eingetragen hat und die komischen Buchstaben - aus russischer Sicht sind das alle außer a, o, e und k - in dickem Grün unterstrichen hat. Schadenfroh spüre ich Fehler in Mutters Schulheft auf: "Mutter, was für "Trank" sitzt denn da? Und was "tragt" diese Erika? Kannst du mir das übersetzen bitte?" (gemeint sind "Frank" und "fragt"). Sie erklärt, sie habe diese Übungen bei der Tochter der Nachbarn aus der vierten Klasse abgeschrieben und schwört, dass es dort genau so stand.

Zugegeben bereitet es mir eine stille Freude, diese sture Person, die immer Recht behalten will, in die Defensive zu treiben. "Nun lesen wir noch mal bitte", bin ich streng. Sie hustet leicht, was Kompetenz vortäuschen soll und schlägt das Heft auf. Als sie zum siebten Mal "Leibe" statt "Liebe" liest und "ziegen" statt "zeigen", beginne ich, mehr und mehr Verständnis für Erziehungsmethoden aufzubringen, die in unserer Kindheit als normal gegolten haben und mittlerweile verpönt sind. Ein schneller Blickwechsel zwischen Mutter und mir verrät, dass wir beide zur gleichen Zeit an einen Abend in einem anderen vergangenen Zeitalter denken müssen:

Ich bin Erstklässlerin, sitze zu Hause am Tisch vor meiner Fibel und will nicht lesen. In einer Ecke knistert ein Feuer in einem Ofen, der bis zur Decke reicht. An einem Haken an der Wand hängt mein Mantel mit Jaguarmuster auf frisiertem Schafspelz, aus den Ärmeln baumeln zwei rote Handschuhe an Schnürchen, sie sehen so lustlos aus wie ich. Ich spitze die Ohren, will lieber hören, was draußen hinter dem Fenster vor sich geht, lese vor, ohne genau hinzusehen, und immer wieder überspringe ich Punkte. Mit einem Mal nimmt meine Mutter mir das Buch aus der Hand und wirft es mir an den Kopf. Ich versuche auszuweichen, stoße mit der Wange gegen ein Wandregal und alle Tassen aus dickem Porzellan, die dort aufgereiht sind, kollern zu Boden. Ich habe meiner Mutter diese Untat längst vergeben. Immerhin lese ich heute viel und gern.

Heute hegt Mutter völlig unrealistische Vorstellungen von meinen Talenten: "Verstehst du alles, was sie sagen? Sprichst du ohne Akzent?", fragt sie mich.

Ich erkläre ihr vorsichtig, dass ich noch immer mit Akzent spreche, obwohl ich seit acht Jahren in Deutschland lebe und arbeite. Und dass ich diesen russischen Klang wahrscheinlich niemals loswerden werde.

Sie ist enttäuscht, verfolgt dennoch mit Stolz, wie wir, die Eisverkäuferin und ich, an einem unsichtbaren Höflichkeitsschleier weben: Bitte schön, danke schön, gern geschehen, schönen Tag, schöne Ferien, schönes Wochenende und Pfingsten und Weihnachten und bitteschön - der Nächste ist dran. Wir setzen uns auf eine Bank und lecken unser Eis. "Guck mal, die Alten da, die Hand in Hand gehen", stupst Mutter mich an "Das habe ich hier schon öfter gesehen, das gibt es bei uns nicht. Und überhaupt, hast du bemerkt, die Alten hier sind so rosig und glatt und dann auch noch Hand in Hand ..."

Ich wechsle im Kopf die Perspektive und sehe, dass diese grauen Panther, die ebenfalls italienisches Eis lecken, tatsächlich so gar nicht unseren russischen Rentnern ähneln. Diesen Rauen und Bekopftuchten, die auch meiner Mutter nicht ähnlich sehen. Mutter würde niemals ein Kopftuch tragen. Obwohl sie fast siebzig ist, färbt und wickelt sie ihr Haar noch immer und legt viel Wert auf ihr Äußeres. Jetzt spricht sie von einem karierten Wollrock, den sie gern hätte, den es aber bei ihrem Kleinhändlermarkt nicht gibt. Ich sehe mich wieder in meinem achten Schuljahr, wie ich versuche, Mutter dazu zu überreden, die Hälfte ihres Gehaltes für eine Jeans auszugeben - mit Erfolg.

"Nein, nein" - sagt sie, "so hab ich das nicht gemeint, so ein Rock ist bestimmt schweineteuer hier!"

"Wir gehen einfach hin und schauen, was es gibt und was es kostet", sage ich generös, zu ihrer sichtbaren Freude.

Als wir im Warenhaus angelangt sind, fangen ihre Wangen Feuer vor Aufregung, dennoch versucht sie den Kopf mit Würde hoch zu tragen. Mir ist ebenso heiß geworden, ich drängele uns in die Frauenkonfektion - keine Röcke. Ich frage nach einem Wollrock, die Verkäuferin führt uns in die Ecke mit Damenmode.

"Dieser? Oder dieser hier? Schauen Sie mal, das ist ein Anzug, auch hübsch, ja. Grün? Hier mit grauen Streifen, das ist sehr schick ..."

Ich schaue meine Mutter an, die rot und aufgewühlt vor der Verkäuferin steht.

"Sie sind aber ohne Falten ..." flüstert sie. Ich übersetze und die Verkäuferin marschiert in eine andere Ecke. "Hier Cityanzug mit Falte vorne und hinten, grüne Farbe, reine Wolle ..." - sie mustert mich von den Füßen aufwärts. Zwischen uns schwebt ein dickes Fragezeichen. Meine Mutter berührt den Rock und dreht das Etikett in der Hand. "Zweihundertneununddreißig Euro und fünfundneunzig Cent. Das gibt´s doch nicht!"

"Zu teuer" - wende ich mich entschuldigend an die Verkäuferin. Die dreht sich um und wirft uns, bereits im Gehen, über die Schulter hinweg zu: "Fahren Sie nach Hause, da finden sie sicher was Passenderes!" Mir schießt das Blut in die Wangen.

"Was, was hat sie dir gesagt?", fragt Mutter und zerrt an meinem Ärmel, als wir schon im Begriff sind, hastig das Warenhaus zu verlassen.


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