Wir waren Räuber

Herkunft Mitte des Lebens, Verwandte sterben, der Vater wird dement. Plötzlich ist da die Frage nach den Wurzeln
Ausgabe 45/2018
Vielleicht im Jahr 1947, in Kruševo, dem Heimatdorf der Familie: links oben die Großmutter, das blonde Baby ist der Vater
Vielleicht im Jahr 1947, in Kruševo, dem Heimatdorf der Familie: links oben die Großmutter, das blonde Baby ist der Vater

Fotos [m]: Archiv Kukić, JP Black/Light Rocket/Getty Images

Wann genau meine Hinwendung zur eigenen Herkunft begann, kann ich nicht genau sagen, vielleicht ist es auch der besonderen Situation des Gastarbeiterkindes geschuldet. Ich war vier, als ich nach Deutschland kam, und seither die meiste Zeit mit Assimilierung befasst, bewusst oder unbewusst. Jetzt bin ich 47, Hälfte des Lebens, „wo nehm’ ich, wenn es Winter wird, die Blumen her und den Sonnenschein“, Sie wissen schon. Zeit, Rückschau zu halten, nun, da Menschen, die einen ein Leben lang begleitet haben, sterben, oder, noch schlimmer, Jüngere als man selbst Krankheit oder Unfall erliegen. Zeit, sich neu zu positionieren, im Spiegel der „grand scale of things“ – dem Großen und Ganzen.

Was macht die voranschreitende Demenz des Vaters mit der eigenen Erinnerung? Neulich fiel ihm der Name seiner Großmutter nicht ein, da dachte ich: „Das kann doch nicht sein, dass ich nicht weiß, wer meine Urgroßmutter ist. Wer bin ich denn ohne dieses Wissen?“

Man muss wissen, dass bei uns Albanern in der Familienerzählung, was den Stammbaum betrifft, immer nur die Blutlinie der Männer erwähnt wird. Der Kanun, das mündlich tradierte Gesetzbuch, der das Zusammenleben der Albaner über Jahrhunderte bestimmte und teilweise immer noch regelt, hat sich in die Seele des albanischen Volkes eingeschrieben. Im Kanun heißt es, Frauen haben kein Stimmrecht, Frauen sind keine Trägerinnen von Ehre und der Kanun erkennt die Frau nicht an. Als westlich assimilierte Frau kann ich das nicht hinnehmen, da ist der Wunsch nach Selbstermächtigung, gleichzeitig der Stolz der albanischen Montenegrinerin. Ich will nicht, dass mit dem schwindenden Gedächtnis meines Vaters auch ein Teil von mir verloren geht. Vielleicht habe ich deshalb an diesem einsamen Abend in einem Hotelzimmer in Heidelberg den Familiennamen meiner Großmutter väterlicherseits bei Wikipedia eingegeben, ohne wirklich zu erwarten, dort etwas über ihre Familie montenegrinischer Bergbauern zu erfahren. Dann wurde ich überrascht.

Der Name Kastrati (von lateinisch: castrum = Schloss, nicht von zurechtgeschnippelten italienischen Opernsängern!) führte mich zu einem Adelsgeschlecht, das zum einen Teil im italienischen Adel aufgegangen ist und sich zum anderen in den montenegrinischen Bergen oberhalb von Gusinje angesiedelt hat. Sie mussten als Katholiken vor den damals einfallenden Osmanen ab Ende des 14. Jahrhunderts geflüchtet sein. „The ... Albanese struck me forcibly by their resemblance to the Highlanders of Scotland, in dress, figure and manner of language“, schrieb Lord Byron. Deshalb also waren mir die drei Großonkel, die ich kannte, immer wie Gentlemen erschienen, mit diesem gewissen Habitus, der die Bergbauern meiner Heimat nicht unbedingt allgemein auszeichnet. Ebenso war meine Großmutter eine stille, feinsinnige Frau. Ihre Sanftheit hatte immer etwas leicht Entrücktes, nicht Greifbares, ja, „Adliges“. Zu dem mir selbst verliehenen Proletarierorden kam jetzt eine Prinzessinnenkrone dazu – eine Abstammung von katholischen „Fürsten und Lords“ hatte das Moslemmädchen und Gastarbeiterkind nun wirklich nicht erwartet. Tippten meine Finger nicht gleich viel vornehmer?

Ich mag Zufälle und entschied mich nun für jenen Strang der Adelslinie, in deren Verlauf ein Augustin auftaucht, mit einer Tochter namens Vittoria, denn, fun fact: Einer meiner Söhne heißt mit Zweitnamen Augustin, der andere Victor mit Vornamen.Weitere Forschungen ergaben, was ich zum Teil schon wusste, dass beide Familien mütterlicherseits „Bajraktari“ waren, was heißt, dass sie vom damaligen Fürsten als Stämme ein Banner (Bayrak) verliehen bekommen hatten, unter welchem sie zum Kampf gegen die Osmanen angetreten waren. Zudem bildete der Stamm der Hoti den ältesten im Kanun erwähnten „Urstamm“ des Albanertums.

Nun beruht die albanische Geschichte auf lauter Mythen. Viele Albaner denken von ihren Sippen als Uralbanern, ich möchte es auch keinem nehmen, da das leicht den berühmten albanischen Stolz verletzt und schnell ethnopolitisch wird, was mich total überfordert. Verbrieft aber ist, dass die Stämme Hoti (Opa), Gruda (Oma), Kastrati (Oma) und Kelmendi (Opa) die vier ersten im Kanun erwähnten Stämme des Nordens und somit seeeehr alten Blutes sind. Die Kastrati werden um 1368, die Hoti um 1400 zum ersten Mal erwähnt.

Das Rauschen des irren Blutes

„What’s your problem?“, fragte mein Onkel in Amerika. Eine Suchanfrage über Facebook nach unserem Familienstammbaum an meine zahlreiche Verwandtschaft bescherte mir neben Reaktionen von Unverständnis zum Glück auch einen jungen Vetter und seine Schwester aus dem Kosovo, die beide als Stipendiaten in den USA weilen und mir sowohl Angaben zur Familiengeschichte väterlicherseits als auch eine lückenlose Blutlinie von über 400 (!) Jahren schickten, die belegt, dass wir väterlicherseits vom Stamm der Kelmendi abstammen. Kurz: In meinen drei Schwestern, meinem Bruder und mir treffen über alle vier Großeltern vier Urstämme des Albanertums zusammen – ich hörte es rauschen, dieses irre alte Blut!

Ich, Europa

Gastarbeiterkind Nermina Kukić kam mit vier Jahren nach Wuppertal, wo sie als Älteste von fünf Geschwistern aufwuchs. Nach dem Abitur 1991 studierte sie Literatur, Amerikanistik und Philosophie, danach Schauspiel an der Folkwang Universität der Künste. Von 2004 bis 2010 spielte sie die Susi Schäfer in der Daily Soap Marienhof. Sie ist verheiratet und Mutter zweier Söhne.

Ich, Europa (Regie: Marcus Lobbes, Bühne: Pia Maria Mackert) ist ein Stück von AutorInnen aus der arabischsprachigen Welt, Nordafrika und dem Balkan über einen sowohl fremden wie vertrauten Kontinent: Europa. „Ein radikal subjektiver, multiperspektivischer Theaterabend“, so das Schauspiel Dortmund, mit „zwischen Leidenschaft und Zorn changierenden Texten, die Europa mal den Puls fühlen, mal das Messer auf die Brust setzen“.

Nermina Kukićs Europa, hipohondrija ist der Eröffnungstext, er wird von der Schauspielerin Friederike Tiefenbacher interpretiert. Es geht um Krieg, Vergewaltigung, Völkerwanderung, Armut, Zerstörung der Natur. Dabei schiebt sie einen toten Stier auf die Bühne.

Ich, Europa ist am Schauspiel Dortmund noch bis April nächsten Jahres zu sehen

Der Bajrak der Familie Hot übrigens, das immer noch in Stoff real existierende Banner, ruht in einer Kiste im Hause meines Onkels Beko und wurde, daran erinnere ich mich noch, zu Hochzeiten und Beerdigungen immer hervorgeholt, immer ein bisschen mit dem Gefühl „Hoffentlich sagt keiner was!“, weil es im Kommunismus unter Tito nicht so gern gesehen wurde, wenn der eine sich über den anderen vermeintlich erhob. Noch komplizierter: Was die Seite meiner Mutter betrifft, die ist gar nicht mehr albanisch, sondern inzwischen sowohl „bosniakisiert“ als auch muslimisch.

Ich habe keine Ahnung, ob irgendeiner versteht, was dem Albaner seine Herkunft und seine Ehre bedeuten, die meisten kennen vielleicht nur die Sängerin Rita Ora, den Schweizer Fußballer Shaqiri, ein paar albanische Kellner und „Blutrache“ in dem Zusammenhang. Vielleicht noch Mutter Theresa. Darum zitiere ich an dieser Stelle gern aus der Biografie Pep Guardiolas, der zwar kein Albaner, aber Katalane ist, und über den sein Biograf Guillem Balagué schreibt: „Die Familie, in der er aufgewachsen ist, hat ihm alte Werte vermittelt, aus einer Zeit, in der die Eltern ihren Kindern weder Geld noch Besitz mit auf den Weg geben konnten, sondern nur Würde und Prinzipien.“ Also egal ob Arbeiter und Bauer oder Fürst und Lord, der Kanun der albanischen Berge unterscheidet nicht, hier steht: „Seele für Seele – denn das Äußere schenkte Gott!“

„Der Gute und der Böse haben denselben Wert: Der Kanun nimmt sie beide für Männer.“ So wie meinen Vater. Als ich ihm von meinen Forschungsergebnissen (ich stehe erst am Anfang) erzählte, nahm er die Adligen eher gleichmütig auf, die ebenso vorkommenden Bergräuber unter den Vorfahren aber kommentierte er mit dem ihm eigenen Stolz: „Jaaa, wir waren Räuber!“ Mein Vater sagt auch: „Ich bin kein Emigrant, ich bin Arbeiter!“ Darum vielleicht suche ich nach dem „Wer bin ich?“, dem „Wo komm‘ ich her?“, vielleicht hilft es mir beim „Wo geh‘ ich hin?“ und dem „Warum?“.

Es gibt und gab in Europa immer wieder ideologischen Wahn, Blut und Boden, Blood-and-Honour-Neonaziwahnsinn, ich habe beschlossen, mein nächster Schritt ist „Blut und Brust“. Danach unterscheidet nämlich der Kanun die Herkunftslinien: Blut = der Vater, Brust, beziehungsweise „Milchlinie“ = die Mutter (klar!). Mich interessieren ja unheimlich die Frauen, denn wenn ich mir die albanischen und montenegrinischen Frauen meiner Verwandtschaft anschaue, unter denen zwischen „Zjarm“ (der Funke/die Glut) und „Flaka“ (die Flamme) allerhand an Temperamenten auftaucht, bin ich mir nicht so sicher, ob die Frauen wirklich so „ohne Stimme“ gewesen sein sollen oder „ohne Ehre“ oder „nicht anerkannt“, wie es der Kanun beschreibt.

Vielleicht so. Der Moslem war früher Katholik, der Katholik früher Moslem, der Moslem byzantinisch-orthodox, der Orthodoxe früher Katholik, der Bauer früher Graf, der Baron früher Pirat, die Dame (british pronounciation) früher Schauspielerin, der Sir früher Popstar, der Deutsche früher Pole oder Russe, der Amerikaner früher allerhand. Ja, vielleicht so. Ach ja, noch ein fun fact: Meine Verwandtschaft in Amerika allein umfasst Hunderte – kein Witz! – von Kukajs direkter Blutlinie. Viele meiner nahen albanischen Verwandten, deren Vorfahren illyrische Räuber waren, dienen heute beim NYPD, der Polizei von New York, denn der Böse stammt vom Guten ab und umgekehrt.

Nermina Kukić wurde 1971 in Skopje geboren. Die Regisseurin, Schauspielerin, Autorin und Theaterpädagogin wirkt derzeit am Theater Dortmund in Ich, Europa mit (s. Kasten)

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