Die intimste aller Beziehungen

Netzwelt Das Smartphone ist zu unserem ständigen Begleiter geworden. Das führt zu einer Reizüberflutung und dem Bedürfnis, auch mal wieder abschalten zu dürfen

Wenn wir uns nicht gerade festhalten, sind wir uns zumindest immer nah. Wir teilen auch das Bett. Die intimsten Momente und den Alltag sowieso. Nach dem Aufwachen. Beim Zähneputzen. Auf dem Klo. In der Schule. Im Studium. Auf der Arbeit. In der Pause. Beim Essen. Unterwegs. Beim Sprechen. Beim Zuschauen. Beim Zuhören. Zuhause. Vor dem Einschlafen. Immer.

Mit unseren Smartphones führen wir längst die intimste Beziehung: Kein bester Freund, kein Partner, kein Mensch kommt uns näher. Vom Aufwachen bis zum Einschlafen begleitet uns das Smartphone. Jeden Tag. In nahezu jeder Lage, jeder Situation. Es liegt düdelnd unter dem Spiegel, während wir duschen. Oder ist maximal eine Kopfhörer-Kabel-Länge entfernt, wenn wir unterwegs sind. Es ist immer verfügbar – und wir Digitalsüchtigen sind es damit auch. Und ich nehme mich da nicht aus.

Reizüberflutet auf die offene See

Wir Digitalsüchtigen stürzen uns in die Gezeiten der Informationen, surfen vergnügt auf der Welle der Benachrichtigungen, der Mails und Messages, der Tweets und Posts. Und wenn uns bei Reiz-Ebbe das Wasser zu ruhig ist – dann warten wir nicht mehr darauf, dass die Reiz-Flut von allein zurückkommt. Sondern wir paddeln dann mit dem Daumen auf die offene See, raus in die Wellen.
Wir aktualisieren. Ständig. Reflexartig. Nicht mehr nur in den langweiligen Wartezimmern oder in der Tram, sondern auch nebenbei beim Zuhören und Zuschauen. Oft ist es sogar umgekehrt: Wir aktualisieren im Vordergrund, und beiläufig hören oder sehen wir dem zu, was da nebenbei passiert.

Es gibt kaum noch Tabus, wir haben das Smartphone nahezu ständig in der Hand. Das fällt nicht nur den Anderen oder den Älteren auf, sondern auch uns selbst. Es fällt uns nicht nur zunehmend schwerer, uns einfach treiben zu lassen. Auf die Flut zu warten und die Ebbe zu genießen. Nicht ständig digital zu rudern. Es fällt uns auch immer schwerer, einem Jemand oder einem Etwas unsere ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken.

Wie digitales Kettenrauchen

Rein rechnerisch schauen wir alle 18 Minuten auf den Smartphone-Bildschirm. Digitales Kettenrauchen sozusagen. Der Informatiker Alexander Markowetz vergleicht unsere Smartphone-Nutzung deswegen mit einer Sucht. Wir sind ständig verfügbar, zeitgleich analog und digital. Die doppelte Dauerpräsenz, sie frisst nach Markowetz unsere Pausen, unsere Aufmerksamkeit, unser Hirn, schließlich unser Glück auf. Der „Digitale Burnout“ drohe uns – und um ihn zu verhindern, dafür braucht es eine neue digitale Etikette.

Die Thesen von Markowetz kann man steil, digitalskeptisch oder kulturpessimistisch nennen, seine digitale Etikette kann man für überflüssig halten. Aber sein grundsätzliches Anliegen halte ich als bekennender Digitalsüchtiger für richtig.

Wir müssen den Daumen bewusster einsetzen

Wir Smartphone- und Digitalsüchtigen müssen zumindest darüber nachdenken, wie wir mit den digitalen Möglichkeiten umgehen. Uns der klettenhaften Beziehung zum Smartphone bewusst(er) werden. Und uns fragen, ob wir wirklich immer beiläufig Newsfeeds mit dem Daumen schubsen und anlasslos Bildschirme entsperren müssen, während wir eigentlich ganz andere Dinge tun wollen und sollen. Wir sollten uns fragen, ob wir wirklich permanent mit dem Daumen digital rudern müssen. Dürfen. Wollen. Sollten.

Wir müssten uns viel häufiger fragen, warum wir eigentlich gerade aktualisieren. Ob wir die Feeds von Instagram, Twitter oder Facebook manchmal nicht nochmal aus Gewohnheit durchpflügen, obwohl es ja doch nichts Neues gibt. Ob wir abends auf dem Kopfkissen noch im Smartphone-Licht scrollen müssen, obwohl wir längst schlafen wollen. Ob wir wirkliche jede Push-Benachrichtung brauchen. Mir geht es nicht darum, das Smartphone und seine zeitgemäße Nutzung zu verteufeln. Dafür nutze ich es selber zu gern. Aber die doch sehr intensiven Nutzungsgewohnheiten möchte ich hinterfragen, auch meine eigenen.

Traumurlaub auf der Offline-Insel

Kurioserweise schwärmen wir Digitalsüchtigen gerne von unserem letzten Urlaub auf der Offline-Insel. Wo wir nicht ständig mit dem Daumen paddeln konnten, weil uns ein Funkloch dazu gezwungen hat. Oder weil wir in einer selbstgewählten Auszeit nicht ständig aktualisieren wollten. Wir Digitalsüchtigen schwärmen gerne mal vom so erholsamen Offline-Urlaub, fernab der alltäglich gewordenen und selbstverursachten Informationsgezeiten. Meistens braucht es einige Zeit, bevor wir uns an diesen Urlaub gewöhnen – aber dann genießen wir ihn in vollen Zügen, egal ob wir ihn selbst genommen haben oder durch Umstände dazu gezwungen werden. Sind froh, aus dem Rhythmus zu sein. Aus dem Schlagrhythmus unserer Daumen, der den digitalen Alltag an unseren Augen und unserer Wahrnehmung vorbeiscrollen lässt. „Müsste man eigentlich viel öfter machen, so eine Auszeit.” Das nehmen wir uns immer wieder vor. Und danach scrollen wir erstmal durch das Verpasste in den sozialen Netzwerken. Wir Digitalsüchtigen.

Sandro Schroeder ist freier Journalist und fühlt sich im Digitalen wohl - und noch wohler, wenn sich beides verbinden lässt.

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