„Die EU ist an allem schuld“

Interview Das britische Theaterkollektiv Gob Squad wird 25 und hat es kaum bemerkt, so sehr nervt der Brexit
Ausgabe 46/2019

Die Feierlichkeiten zum Jubiläum fallen bescheiden aus für das siebenköpfige Team – der Brexit deprimiert, der Kampf um Fördergelder für ein neues Projekt ging leider nicht gut aus. Für manche heißt das: wieder bei Lieferando jobben.

Ein Treffen mit Sean Patten und Johanna Freiburg auf einen Tee, ein kurzes Innehalten inmitten des großen kapitalistischen Überlebenskampfs.

der Freitag: Rhetorische Frage. Haben Sie es auch so satt, das mit dem Brexit?

Sean Patten: Ja, es ist wie ein Horrorfilm, der nie endet. Ich glaube auch, die Leute in Großbritannien wollen es nur noch hinter sich bringen. Andererseits: Der Brexit könnte langfristig sogar gut sein, weil Großbritannien endlich feststellen wird, dass seine Zeit als Imperialmacht abgelaufen ist und dass es sich als kleines, unbedeutendes Land begreifen muss.

Johanna Freiburg: Ich finde es nicht langweilig. Ich habe mir lange vorgestellt, jetzt würde die Queen einschreiten und den Brexit canceln. Ich habe diese „Deus ex Machina“-Fantasie, wo der Austritt einfach nicht stattfindet.

Ihr Brexit-Abend „I Love You, Goodbye“ wirkt wie eine Revue dieser Gefühle ...

Freiburg: Der Brexit war unsere Inspiration, ja, aber es geht vielmehr um Herkunft und Zugehörigkeit. Wir inszenieren das Stück als eine Art „Britisches Parlament trifft Kochsendung“.

Dabei sind weder Deutschland noch Großbritannien besonders renommiert für ihre Küche ...

Patten: Trotzdem ist Essen Teil unseres Heimatgefühls. Keine*r von uns hat eine besondere Leidenschaft für Fußballteams und wir alle haben ein sehr ambivalentes Verhältnis zu einer Nationalfahne und Staatsangehörigkeit.

Freiburg: Gelinde ausgedrückt!

Der Titel klingt wie eine kulturelle Scheidung. Was würden Sie vermissen?

Freiburg: Was am meisten betroffen macht, ist der Verlust einer europäischen Idee. Als wir studierten, hatten wir das Gefühl, wir könnten überallhin. Genau das haben wir gemacht. Dass mein Sohn nicht im selben Geist aufwachsen wird, ist traurig.

Patten: Damals dachten wir, das europäische Projekt wäre eine fortschreitende Entwicklung. Heute sieht man, dass das Zusammenrücken nicht selbstverständlich ist. Man muss darum kämpfen und kann auch verlieren.

Wie „entfickt“ man den Brexit? Im August eröffneten Sie die Spielzeit des Frankfurter Mousonturms. Dort trug der Titel die Ergänzung „Unfuck My Brexit Edition“.

Freiburg: Es war Teil des Festivals „Unfuck My Future“. Die Idee ist: Wenn du bereit bist, mich richtig kennenzulernen, obwohl wir uns unterscheiden – dann erst wird Gemeinsamkeit möglich.

Patten: Um einen Brexit zu „entficken“, muss man verstehen, warum die Leute so gewählt haben. Ich war im Sommer bei Verwandten in Thanet in Kent zu Besuch – eine Brexit-Hochburg, wo Nigel Farage zur Wahl angetreten ist. Es gab einen starken Gestank von Meeresalgen, der über die Stadt wehte. Meine Tante meinte, früher hätten die Bauern die Algen als Dünger benutzt. Heute dürften sie das aber nicht mehr. Das ist das Problem: Jeder Missstand soll angeblich mit der EU zu tun haben.

Sind nur die Tanten für den Brexit oder auch alte Freunde?

Patten: Wenn wir Familie und Freund*innen besuchen, sehen wir, wie stark sich die Orte sowohl in Nord- als auch in Südengland verändert haben. Die meisten Läden sind geschlossen, erst wurden sie durch Charity-Shops ersetzt, jetzt schließen selbst die. Zurückgeblieben sind mit Brettern vernagelte Schaufenster oder kaputte Hüllen von verlassenen Einkaufspassagen. Wo einst das lebendige Zentrum eines Ortes war, ist jetzt eine Geisterstadt. Die Menschen dort – unsere Familien – machen für den Niedergang ihrer Heimatorte die EU verantwortlich. Wir streiten leidenschaftlich, wir verstehen aber auch den Wunsch nach Veränderung. Wir haben Freund*innen, die für „Leave“ gestimmt haben, motiviert aus einer Anti-Globalisierungs-Haltung heraus. Sie sagen, dass die EU im Interesse des Kapitals gegründet wurde. Im Zentrum hätten nie die kleinen Leute oder der Schutz der Verbraucher gestanden. Und wenn wir an Griechenland denken, ist das eine ziemlich überzeugende Argumentation.

Zu den Personen

Gob Squad, gegründet 1994, ist ein britisch-deutsches Performance-Kollektiv. Ständige Mitglieder: Johanna Freiburg, Sean Patten, Berit Stumpf, Sarah Thom, Bastian Trost und Simon Will (Freiburg und Stumpf gehören auch zu She She Pop). Bekannt wurden sie 1997 mit einem Live-Warte-Tanz auf der X. documenta in Kassel

Dieses Jahr wird Gob Squad 25 Jahre alt. Wie feiern Sie diesen Anlass?

Freiburg: Wissen Sie, als Sie nach diesem Interview gefragt haben, fiel es mir überhaupt erst wieder ein! Wir haben unser 20-jähriges Jubiläum groß gefeiert, dieses Jahr sollten wir wenigstens was essen gehen, Sean.

Patten: Ehrlich gesagt war es ein komisches Jahr für uns. Wir haben Fördermittel für ein Projekt nicht bekommen. Zum Jubiläum wurden wir daran erinnert, dass nichts selbstverständlich ist, dass das Leben als zeitgenössischer Künstler immer noch ein prekäres ist.

Es gab aber Höhepunkte: Inszenierungen an der Volksbühne und im Schauspiel Köln, eine Einladung zum Theatertreffen ...

Freiburg: Das Schauspiel Köln und die Volksbühne haben für uns gut funktioniert, weil wir unser eigenes Ding machen durften, aber mit einem größeren Budget und einem neuen Publikum. Wir sind allerdings auch in der freien Szene glücklich, das hat mit den Erwartungen des Publikums zu tun. Es ist häufig aufgeschlossener für ungewöhnliche Formate. Was es nicht braucht: ein Scheiß-Bühnenportal wie an den meisten Stadttheatern.

Patten: Ich wollte aber schon immer etwas im Friedrichstadt-Palast inszenieren. Es hat mich sehr geärgert, dass René Pollesch und Fabian Hinrichs schneller waren.

Haben Sie Nebenjobs, weil es so prekär läuft?

Freiburg: Einige Mitarbeiter*innen arbeiten zwischen Projekten bei Lieferando. Wir können es uns nicht leisten, sie ganzjährig zu beschäftigen, obwohl wir zum Teil seit 25 Jahren zusammenarbeiten. Fällt eine Förderung aus, trifft es sie besonders hart. Manche von uns unterrichten an Universitäten.

Patten: Aber wir reden hier darüber, wie es möglich ist, innerhalb des Systems zu überleben! Das ist problematisch, denn es funktioniert nicht! Es ist brutal und unmenschlich. Die Gesellschaft, wie sie ist, die EU in der bestehenden Form kann so nicht weitergehen. Es ist abgefuckt und wir müssen es „entficken“. Wir alle finden Wege, uns in der bestehenden Welt einzurichten, halten fest an Privilegien, wollen nichts von einer drastischen Veränderung hören. Die Angst ist verständlich, aber wir müssen anfangen, Alternativen zu denken und zu leben. Unser Weg war es, ein Kollektiv mitten im kapitalistischen System zu gründen.

Ist Berlin denn als Basislager überhaupt noch attraktiv?

Freiburg: Die Situation auf dem Wohnungsmarkt macht das Leben für Künstler*innen in Berlin zunehmend schwierig. Ein Mitglied unserer Gruppe ist aktuell von Entmietung bedroht. Gob Squad ist von den Gewerbemieten betroffen, diese unterliegen bislang besonders wenig Schutz. Wir haben Glück und können unser Büro in Kreuzberg zahlen, aber wie lange noch? Unser altes Büro an der Torstraße wird aktuell für 3.500 Euro neu vermietet!

Es ist erfrischend, wie Gob Squad mit Tiefpunkten umgeht ...

Patten: Es ist unmöglich, 25 Jahre einen Hit nach dem nächsten rauszuhauen. Klar, man will immer, dass das nächste Projekt großartig wird. Dazu kommt, dass 95 Prozent der öffentlichen Fördermittel nicht an freie Künstler*innen gehen, sondern an die Stadttheater.

Freiburg: Und dabei gehören wir zu den Erfolgreichsten in unserer Nische und bekommen den Löwenanteil der Gelder.

Kann sich jemand aus der Gruppe vorstellen, zurückzugehen?

Patten: Sharon (Smith, Anm. d. Red.) ist gerade zurückgekehrt. Sie unterrichtet an der Universität von Plymouth. Sarah Thom würde gerne mehr in Großbritannien arbeiten. Sie möchte vielleicht eines Tages ganz zurück. Der Brexit ist für uns ein Grund, die Zusammenarbeit mit der Kunstszene dort zu verstärken.

Info

I Love You, Goodbye (The Brexit Edition) im HAU Berlin, auch zum neuen Brexit-Termin, am 31. Januar 2020

Nicholas Potter ist ein britisch-deutscher Journalist und Bühnenredakteur beim englischsprachigen Stadtmagazin Exberliner. Auch er findet den Brexit schmerzhaft

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