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Leonberger Abende Kolumne

Ich stehe im 4. Stock auf dem Balkon der Wohnung meiner Cousine und blicke auf diese hässliche, hässliche Kröte von Stadt in der ich geboren wurde und immerhin gute 20 Jahre meines Lebens verbracht hatte. Gottseidank muss ich mich wenigstens diesmal ausnahmsweise nicht schämen, weil da kann ich ja nichts dafür.

Es ist erstaunlich wie viel neue und monströse Scheußlichkeiten in den zwei Jahren Jahren meiner Abwesenheit im Ausland einer schon bis zur Kotzgrenze entstellten Stadt noch beigefügt wurden.

Vis à vis schaue ich unter anderem auf die Eckkneipe vor dem ehemaligen Haus meiner Großeltern. Schon mit ungefähr sechs Jahren war mir klar, dass das so eine Säuferkaschemme ist, ohne je drin gewesen zu sein oder zu wissen, was genau einen Säufer ausmacht, aber beim Anblick der herauskommenden verknitterten, vergerbten Visagen mit ihren glasigen Augen, die den Anschein einer präsentablen Existenz nur noch in Form ihrer mausgrauen Polyesteranzüge mit beigen Pullundern über einer starr angezogenen Krawatte aufrecht erhielten, kriegt man schon in jungen Jahren eine Ahnung und wünscht sich insgeheim, dass man hoffentlich niemals alt wird und/oder ein Säufer.

Ich möchte dem inneren Drang nachkommen vom Balkon in alle vier Himmelsrichtungen herauszubrüllen: "Ihr seid alle Spießer" und dann leise in mich hineinzumurmeln "und du bist der Größte von allen", aber da klingelt das Telefon und meine Oma gibt aus dem 2. Stock durch, dass der Frühstückskaffee jetzt bereits seit einer halben Stunde in der Maschine steht und ich erahne bitteren Malzgeschmack, also beeile ich mich und hüpfe mit freundlicher Unterstützung der Erdanziehungskraft beschwingt die Treppen im Hausflur hinunter.

Nach dem Frühstück und ein wenig Geplauder erstellen wir eine Mängelliste, die gleichzeitig meine Einkaufsliste ist. Ich habe mich ritterlich bereit erklärt die Besorgungen zu übernehmen und damit von Pontius zu Pilatus zu hecheln um Diverses einzukaufen, sowie eine Uhr zum Uhrmacher zu bringen. Ich weiß dieser Umstand führt mich einmal kreuz und quer durch meine Heimatstadt und damit auch durch zahlreiche Meilensteine meiner Kindheits- und Jugenderinnerungen, was sich mir irgendwie als aufregende Aktion präsentiert.

Natürlich mache ich alles per pedes um das Martyrium ein wenig zu betonen. Außerdem habe ich kein Auto. Nachdem ich zweieinhalb Jahre den Arsch nicht hochgekriegt habe um meinem Ömchen auch nur den kleinsten Hilfsdienst zu erweisen, erscheint mir das nur recht und billig.

Ich stelle mir vor, wie ich den Wäscheständer auf dem Rücken - wie Jesus seinerzeit das Kreuz - gebuckelt vom Einkaufszentrum hierher zurückschleppe. Aus Gründen der Dramatik wünsche ich mir, dass mich Schulkinder auf meinem Weg mit Dreck und Kieselsteinen bewerfen und schreien: "Du schwule Hurensau!" während ich mich gestrauchelt vom Boden hochwuchte und den Wäscheständer wieder schultere. Schließlich liegt das heutzutage durchaus im Bereich des Möglichen bei den asozial erzogenen Drecksbälgern, die sich in dieser 40.000-Einwohner-Metropole nach der Schule in den Gassen herumtreiben.

Ich fertige im Kopf eine Marschroute an und stecke meinen ersten Aktionsmarker als virtuelles rotes Fähnchen auf der Stadtkarte in den Marktplatz, oder auch: Zentrum der historischen Altstadt mit Geburtshaus von Johannes Kepler gotthabihnselig. Fähnchen Nummer zwei steckt im Leo-Center, dem Youth-Hostel meiner Jugendjahre. Lange bevor es in Amerika als soziales Phänomen definiert wurde, hatten ich und meine Clique das passionierte Herumlungern in einem Einkaufszentrum zum Nonplusultra der Freizeitbeschäftigung erkoren und es tagtäglich nach der Schule auf den Treppen neben dem Mini-Back-Shop von Trölsch mit Hingabe praktiziert. Beim bevorstehenden neuerlichen Anblick schwanen mir Flutwellen von Erinnerungen, denke ich so, komischerweise alle in assoziativer Verbindung mit einem Päckchen Rumkugeln von Hussel.

Schließlich ziehe ich meine Jacke an und schnalle mir meine Tasche um. Bevor ich den ersten Schritt aus der Wohnung mache, lenke ich noch einen Blick auf das Ührchen an meinem Handgelenk und mir fällt etwas ein, das sofort zu einer Art Panikattacke führt und mir umgehend laut ausgesprochen von meiner Oma - zwei-Menschen-ein-Gedanke-mäßig - bestätigt wird. Sie sagt und ich denke: die Läden am Marktplatz werden über Mittag zu sein und natürlich ist es jetzt kurz vor motherfucking Mittag! Scheiß Kleinstadt.

Gegen jede Hoffnung und Sinn und Verstand ändere ich nichts an meinem ursprünglichen Plan und beginne mit dem countdown: ten, nine, eight, seven, six, five, four, three, two, one, liftoff. Ich trete aus der Wohnung und gehe die Treppen zum Erdgeschoss hinunter.


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