Wenn selbst das altehrwürdige und konservative Weltblatt Neue Zürcher Zeitung von seiner Leserschaft erwartet, dass sie die berauschende Wirkung von Cannabis kennt, lässt dies Aufhorchen. Umso mehr, wenn der betreffende Artikel in der ansonsten staubtrockenen Rubrik "Forschung und Technik" erscheint. "Wer einen Joint raucht, kennt den Effekt: Haschisch oder Marihuana lösen ein angenehm entspanntes Gefühl aus", wurde unlängst ein Text zum Einsatz von Cannabis-verwandten Wirkstoffen in der Psychiatrie eingeleitet. Statistisch betrachtet, nimmt die gewagte Formulierung jedoch einzig Rücksicht auf die gesellschaftliche Realität: Rund 80.000 Personen (oder mehr als ein Prozent, der in der Schweiz lebenden Bevölkerung) führen sich tagtäglich mindestens einen Joint zu Gemüte, mehr als eine halbe Millionen hat dies mindestens einmal getan - darunter werden sich auch etliche NZZ-Leser befinden. Im Vergleich sind dies rund dreimal mehr Kiffer als in Deutschland.
Permanente Debatte
Kaum ein Tag vergeht, ohne dass Drogen im Allgemeinen und Hanf im Speziellen in der Schweiz für Schlagzeilen sorgen. Diese starke (Medien-)Präsenz ist Folge einer nun schon über zehn Jahren andauernden politischen und gesellschaftlichen Debatte rund um die Drogenpolitik der Alpenrepublik. Selbst der Schlagzeilengenerator Nummer eins, die Neutralität Landes, hat spätestens seit dem Beitritt der Schweiz zu den Vereinten Nationen einen schweren Stand gegen Cannabis, Haschisch und andere Rauschmittel.
Die in weiten Teilen des Landes geübte Toleranz von Polizei und Gerichtsbehörden gegenüber KonsumentInnen von Hanfprodukten resultiert aus der Einsicht, wonach der Konsum von harten und weichen Drogen unterschiedlich sanktioniert werden müsse; nicht zuletzt um eine Vermischung der beiden "Szenen" zu verhindern. Ein solches Umdenken hat längst noch nicht alle relevanten Kreise erfasst und die Mehrheit zugunsten einer Entkriminalisierung des Cannabis- und Haschischkonsums steht auf wackligen Beinen. Obwohl Lippenbekenntnisse und Absichtsbekundungen von rechts bis links zu vernehmen sind, zieht sich auf dem politische Parkett die Legalisierungsdebatte mit bekiffter Trägheit in die Länge.
Die Stadt als Plantage
Das berauschende Kraut selbst scheint dies wenig zu kümmern, sprießt es doch munter an allen Ecken und Enden. In den Städten müssen Balkone und Dachgärten, aber auch Keller und Wohnstuben als Hanf-Plantagen herhalten, auf dem Lande wird gleich hektarweise nach allen Regeln der Bauernkunst Drogenhanf angebaut. Letzteres entpuppte sich für manchen Landwirt als Unterfangen mit Haken und Ösen. Entscheidend für die Legalität des Hanfanbaus ist bekanntlich der Gehalt der psychoaktiven Rauschsubstanz THC. Rein äußerlich ist dem Gewächs nicht anzusehen, ob beim Abbrennen der harzhaltigen Blüten illegale Substanzen freigesetzt werden. Sobald aber die Gesetzeshüter Wind von zu hohen THC-Werten kriegen, ist Schluss mit lustig und die vorzeitige Ernte so gut wie beschlossene Sache. Wie lange aber die Behörden eines oder beide Augen zudrücken, lässt sich selten nachvollziehen und ist mitunter Ausdruck der unsicheren Auslegung der Rechtslage. Gemäß des über 50 Jahre alten Gesetzes, sind Handel, Besitz und Konsum weiterhin strafbar. So wurden in den vergangenen beiden Jahren durchschnittlich rund 15 Tonnen Cannabisprodukte sichergestellt, das sind sechs Tonnen mehr als im gleichen Zeitraum in Deutschland beschlagnahmt wurde. Die Tatsache, dass in der Schweiz eine dermaßen große Menge Hanf in den Händen der Ermittler gelandet ist, hat nicht zuletzt mit der Verfügbarkeit zu tun. Wo Cannabis mehr verbreitet ist, gibt es auch mehr zu beschlagnahmen.
Katz und Maus
Nach derselben Logik funktioniert der Umgang der Polizei mit Verkaufsstellen von rauchbarer Hanfware: Erst die Händler der Shops im Ungewissen lassen, dann plötzlich zuschlagen und sich danach Monate nicht mehr zeigen, um dann umso überraschender wieder zu intervenieren. Doch längst ist dies nur noch Symptombekämpfung. In Bern etwa, der kleinen Hauptstadt des Landes, sowie in den meisten größeren Städten im deutschsprachigen Teil, werden im öffentlichen Raum Joints konsumiert, ohne dass empörte BürgerInnen oder Gesetzeshüter einschreiten würden. Wer etwa abends durch Berns Arkaden promeniert, dabei die Augen auf konisch geformte Zigaretten gerichtet und die Nase auf einen süß-säuerlichen Duft eingestellt hat, wird nicht enttäuscht. Mit einer Selbstverständlichkeit, wie sie sonst nur in holländischen Coffee-Shops anzutreffen ist, wird in der Schweiz gekifft. Ebenso beliebt wie Gassen, Parks und Plätze sind die Züge. Wer schon einmal in einem Raucherabteil der Schweizerischen Bundesbahnen gereist ist, kann ein Lied davon singen. Schon frühmorgens streicht einem der penetrante Duft um die Nase, auf den Ablageflächen zeugen Tabakkrümel von dem unverkrampften Verhältnis der helvetischen Jugend zum Cannabiskonsum.
Profiteure des Hanfbooms sind die Inhaber von Hanfläden, die den Umstand zu nutzen wussten, dass längst nicht alle Kiffer einen grünen Daumen haben, obwohl die Schweiz neben Jamaica wohl eine der höchsten Eigenanbauquoten aufweist. Oft in bester Lage, an den teuren Ecken der Innenstädte sind die einschlägigen Geschäfte zu finden. Dafür gibt es mehrere Gründe: Zum einem führt der Konkurrenzdruck unter den Hanfhändlern zu einem verschärften Standortwettbewerb, der jenem Verkäufer die meisten Kunden zuführt, der an zentraler Lage seine Zelte aufschlägt, zum anderen sind die Mietzinse in Zentrumslage dermaßen hoch, dass sich dort nur noch Verkaufslokalitäten leisten kann, wer einen entsprechenden Umsatz generiert. Dies sind einerseits Filialen von internationalen Unternehmen oder eben Hanfshops, die Dank des illegalen Status ihrer Verkaufsware und des polizeilich weitgehend unterbundenen Straßenhandels in der Preisgestaltung relativ flexibel sind - nach oben versteht sich. Allein in Bern gibt es rund 20 bis 30 Läden, die Cannabisprodukte und alles, was zu dessen Konsum gebraucht wird, verkaufen; im Nachbarstädtchen Biel, das gerade Mal halb so groß ist, wird von einer ähnlichen Anzahl Cannabisverkaufsstellen berichtet.
Wehrkraftzersetzung
Der verhältnismäßig liberale Umgang mit weichen Drogen zeitigt bisweilen höchst erstaunliche Folgen. Zwar haben sich die Schweizer BürgerInnen bereits bei zwei Gelegenheiten an der Urne gegen die Abschaffung der Armee ausgesprochen, die effizienteste "Wehrkraftzersetzung" indes kommt aus dem Inneren der Streitkräfte selbst. Den Rekord hält die Festungs-Rekrutenschule 59 in Mels. Mitte Mai wurden dort 16 von 17 Armeeangehörigen positiv getestet, 15 auf Cannabis und einer auf Kokain. Erstaunlich ist die verständnisvolle Reaktion aus Armeekreisen auf diesen durchaus repräsentativen Vorfall. Der Chefredakteur der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift etwa lies verlauten, die Erziehung zu Pflichtgefühl und Disziplin sei wichtiger als ein Verbot für die Soldaten, in der Freizeit Haschisch zu konsumieren. Wenigstens in Drogenfragen gibt die Armee noch ein zuverlässiges Spiegelbild der Gesellschaft ab.
Legalisierung an der Wahlurne?
Der endgültige Entscheid, ob der Konsum von Cannabisprodukten in der Schweiz legalisiert wird, dürfte nach gut-eidgenössischer Tradition an der Urne fallen. Bereits für einen solchen Schritt ausgesprochen hat sich der Ständerat (Länderkammer), im kommenden Dezember wird erwartet, dass der Nationalrat dasselbe tut. Bei der Debatte im bürgerlich dominierten Ständerat, hat der weit verbreitete Cannabiskonsum gleichsam als normative - respektive legislative - Kraft des Faktischen seine Wirkung entfaltet. Wenn so viele Leute kiffen, meinte etwa Innen- und Gesundheitsministerin Ruth Dreifuss, dürfe der Konsum kein Delikt mehr sein. Auch Anbau, Herstellung, Besitz und Erwerb für den Eigenkonsum sollen von der Strafe befreit, gewerbsmäßiger Anbau und Verkauf toleriert werden.
Bevor die Vorschläge Gesetzeskraft entfalten, haben 50.000 SchweizerInnen die Möglichkeit, eine Volksabstimmung einzufordern. Erst deren Ausgang ist das endgültige Verdikt in der Legalisierungsfrage. Mit einem solchen Referendum wird in etwa zwei Jahren gerechnet. Mögliche Gegner der Gesetzesanpassung, die das Referendum ergreifen könnten, sind im Umfeld der Psychosekte VPM auszumachen. Bereits bei anderen drogenpolitischen Fragen haben sie mit direkt-demokratischen Mitteln zu intervenieren versucht - erfolglos bislang.
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