1986: Spechtklopfen

Zeitgeschichte Die Katastrophe von Tschernobyl verändert das Kräfteverhältnis im Kalten Krieg. Die Sowjetunion verliert ihr Spähsystem „Duga 1“ und an Ebenbürtigkeit gegenüber den USA
Ausgabe 17/2021

Der Sound dieses Ortes ist ein besonderer. Es klingt so, als würde gleich eine Formation fliegender Transformers in den Wald stürzen. „Halt, hier wird scharf geschossen!“ steht auf einem Schild. Der Zaun dahinter ist längst löchrig. Und dann wird das singende Ungetüm sichtbar: Mehr als 60 Stahlmasten ragen in den Himmel, die höchsten 150 Meter weit. Jeder hat 44 Arme, an denen seltsame Metallbojen befestigt sind. Dazwischen verlaufen Tausende von Drähten, durch die der Wind pfeift – und so das bewusste Geräusch erzeugt.

„Duga 1“ heißt die Anlage, die größte bekannte Radarstation weltweit, einst ein sowjetisches Staatsgeheimnis ersten Ranges, aber erstens existiert die Sowjetunion nicht mehr, und zweitens flog in dieser Gegend am 26. April 1986 Block 4 des Atomkraftwerkes „W. I. Lenina“ in die Luft. Vor 35 Jahren verursachte die Katastrophe von Tschernobyl nicht nur das bis dahin schwerste Atomenergie-Unglück der Geschichte – die Havarie war auch ein Anfang vom Ende des Kalten Krieges. Das lag nicht zuletzt an „Duga 1“, dem gigantischen Radarempfänger, der zehn Kilometer vom Reaktorblock 4 entfernt errichtet worden war. Dank des nahen Nuklearreaktors gab es Strom im Überfluss, und das ohne Unterbrechung. In der Sowjetunion war das damals keine Selbstverständlichkeit, für die Wahrung des Weltfriedens, sprich: die permanente Beobachtung des Luftraums der NATO, aber essenziell. Dafür, dass die Sowjets ihre Anlage ausgerechnet hier platziert hatten, gab es einen zweiten Grund: Wegen des Atomkraftwerks war die Gegend ohnehin gut überwacht, Ausländer kamen praktisch nie hierher. Mitte der 1980er Jahre sollte Tschernobyl mit zwölf Reaktoren zur weltweit größten Anlage dieser Art ausgebaut werden, Block 5 und 6 standen kurz vor der Inbetriebnahme.

„Duga 1“ galt als Herzstück der sowjetischen Verteidigungsstrategie. „Das System war in der Lage, Ziele in einer Entfernung von bis zu 9.000 Kilometern aufzuspüren“, so Matthias Uhl, Wissenschaftler am Deutschen Historischen Institut in Moskau. Bis New York seien es von Tschernobyl lediglich 7.500 Kilometer Luftlinie, und als Ziele seien einzeln oder im Pulk anfliegende, mit Atomsprengköpfen bestückte Trägerraketen zu verstehen gewesen. „Flugzeuge schieden aus, da diese ja keine ballistische Flugbahn hatten und nicht wie Interkontinentalraketen durch das All flogen“, erklärt Uhl. Anders als die Amerikaner setzte die Sowjetunion nicht auf einen interkontinentalen Raketenabwehrschild. Ihre Strategie war der atomare Gegenschlag. Oder eben „Duga 1“: Sollten die Vereinigten Staaten jemals eine Atomrakete losschicken, bliebe dank der hohen Sendeleistung genug Zeit, um die Gefahr zu erkennen und als Reaktion das eigene Atomwaffenarsenal Richtung Westen fliegen zu lassen. Sowjetische Staatsoberhäupter wie Leonid Breschnew, Juri Andropow und Konstantin Tschernenko wurden nicht müde, die USA immer und immer wieder vor dieser Gegenschlagkraft zu warnen: Bevor euer Sprengkopf unser Territorium erreicht, haben wir euch längst vernichtet.

Aber dann kam der 25. April 1986. Block 4 des Atomkraftwerkes „W. I. Lenina“ nahe der Stadt Prypjat war ans Netz gegangen, ohne dass alle für die Genehmigung notwendigen Tests stattgefunden hatten. Die sollten nachgeholt werden. Zunächst hatte die Tagesschicht den Nachweis zu erbringen, dass bei einem Stromausfall die Rotationsenergie der Turbine genügend Elektrizität liefern würde, bis die Notstromaggregate ansprängen. Allerdings war die Stromnachfrage im 110 Kilometer entfernten Kiew an diesem Tag so groß, dass das Experiment abgebrochen und an die Schicht des nächsten Tages übergeben wurde. Die freilich war auf den Ritt auf der Rasierklinge nicht vorbereitet: Ohne die Risiken zu kennen, fuhren die Ingenieure den Reaktor herunter und bedienten ihn dann falsch. Binnen weniger Sekunden erhitzte sich der Kern bis zum Schmelzpunkt des Kernbrennstoffs, der Reaktor explodierte, eine erhebliche Radioaktivität wurde freigesetzt.

In Prypjat, der nahen Wohnstadt der Atomwerker, nahm man die Gefahr zunächst genauso wenig wahr wie in Duga, der neben der Radaranlage errichteten Siedlung für gut 2.000 Einwohner. Ingenieure lebten hier, Wissenschaftler, die für den Betrieb der Radaranlage zuständig waren, dazu Militärs, die Daten auswerteten, um auf ihre Weise das atomare Gleichgewicht aufrechtzuerhalten und dem Weltfrieden zu dienen – sie alle waren mit ihren Familien nach Duga gezogen. Es gab alles, was dazugehörte: Schulen, Kindergärten, Restaurants, Parks, Polikliniken, Bibliotheken. Daneben existierte natürlich auch eine ganz normale Unterkunft für Wachsoldaten, Pioniere und Versorgungseinheiten mit Kastenbrot, Dienstplan und Disziplin.

Wann genau die Stadt Duga nebst der Kaserne aufgegeben wurde, ist nicht bekannt. Die 50.000 Einwohner der Atomwerkerstadt Prypjat wurden wie die Bevölkerung aus der unmittelbaren Umgebung am 27. April ab Mittag mit über 1.000 Bussen evakuiert. Dugas Nachbarort Kopachi räumte man aktenkundig erst Anfang Mai 1986. Das Dorf war derart verstrahlt, dass alle Häuser abgerissen, ihr Baumaterial samt Möbeln, Teppichen und Inventar in ein atomares Zwischenlager verbracht werden musste. Bis heute fehlt die letzte Klarheit, wie viele Menschenleben die Atomkatastrophe gekostet hat. Die Internationale Atomenergie-Organisation IAEO schätzt, dass etwa 4.000 Menschen an den Langzeitfolgen starben. Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) gehen bei ihren Analysen von deutlich höheren Zahlen aus.

„Woodpecker“ nannte die NATO das Kurzwellensignal, das vom System „Duga“ erzeugt wurde. Mit einer Frequenz von zehn Hertz blieb es Hobbyfunkern lange ein Rätsel, es hörte sich an wie Spechtklopfen, daher der Name. „Bei ‚Duga‘ handelte es sich um ein sogenanntes Überhorizontradar, das im Kurzwellenbereich arbeitet und zur Reichweitenerhöhung Reflexionen der Ionosphäre nutzt und so eine Ortung über die Erdkrümmung hinaus ermöglicht“, so Militärexperte Uhl. Drei solcher Sendeeinheiten habe es gegeben. „Die Anlage am Schwarzen Meer bei Nikolajew diente als Prototyp für Tschernobyl und Komsomolsk.“ Dort hatten die Sowjets bei 9.400 Kilometer Luftlinie bis New York „Duga 2“ nahe dem Pazifik aufgebaut, sodass man den gesamten amerikanischen Luftraum unter Kontrolle hatte, zumindest galt das bis zum Reaktorunfall in Tschernobyl.

Getarnt war „Duga 1“ als Jugendferienheim, noch heute grüßt Mischka, das Maskottchen der Olympischen Sommerspiele in Moskau 1980, von der Bushaltestelle. „‚Duga 1‘ steht nur noch wegen der Atomkatastrophe von 1986“, sagt Johny Pirogow, Reiseleiter bei „Chernobyl Tour“. Nach dem Ende der Sowjetunion 1991 waren russische Militärs daran interessiert, die anderen Anlagen schnell verschwinden zu lassen. Die Masten in Nikolajew und Komsomolsk wurden gesprengt und eingeschmolzen. „Duga 1“ hingegen geriet in der 30-Kilometer-Sperrzone um den explodierten Reaktor in Vergessenheit.

Die nukleare Strahlendosis war hier noch vor Jahren extrem hoch, bis findige Reiseunternehmer die Anlage wiederentdeckten und als Ziel der „bizarrsten Tagestour weltweit“ aufnahmen, wie sie der Reiseführer Lonely Planet empfiehlt. „Es gibt keine Idee dazu, wie man die Stahlträger umlegen könnte“, sagt Fremdenführer Pirogow. Interesse am Stahl hätten viele, der ließe sich gut verkaufen, doch müsse bei einer Sprengung mit einem lokalen Erdbeben gerechnet werden, das die gerade erst im Erdreich gebundene Radioaktivität wieder freigäbe. Ein Vorteil für Pirogow: „Nicht viele bieten ‚Duga 1‘ in ihrem Reiseprogramm an.“ Tschernobyl sei der Anfang vom Ende der Sowjetunion gewesen, urteilte deren letzter Präsident Michail Gorbatschow. Um die Katastrophe zu bewältigen, habe das Land enorme Ressourcen aufbringen müssen, sodass für die Weiterentwicklung des Sozialismus einfach nichts mehr übrig blieb.

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