Als die Flüsse schäumten

Umwelt Eines steht fest: Der Natur geht es heute deutlich besser. Erinnerungen an die Umweltverschmutzung im Ostblock

Nach den positiven Seiten des Lebens zu suchen, machte manches erträglicher. Also musste es ja für irgendetwas gut sein, dass es mich 1985 ins Gaskombinat Schwarze Pumpe verschlagen hatte, genauer: in die Brikettfabrik Ost. Ausgesucht war das nicht. Ich war “Delegierter“, jemand der Erfahrungen in der sozialistischen Produktion sammeln sollte. Und das musste doch wohl irgendeinen Sinn ergeben – Lehren fürs Leben.

Einige waren recht offensichtlich. Zum Beispiel, dass man seine Wäsche nicht auf der Leine trocknen sollte, sondern über der Stuhllehne. Die Luft in Schwarze Pumpe stank nicht nur penetrant, sie war auch so getränkt vom Kohlestaub, dass man die draußen getrockneten Kleider gleich wieder waschen musste. Der Kohlestaub klebte zäh im Gewebe. Da mochte man kaum darüber nachdenken, wie eine Lunge aussieht nach längerem Aufenthalt.

Nach fast 30 Jahren wirkt das ein bisschen surreal, die Welt war ja eine andere, auch im Westen. Ozonloch, Waldsterben, der kaputte Rhein, der Müll-Irrsinn der Wegwerfgesellschaft, die Dünnsäureverklappung, der Atomstaat: Die Grünen etablierten sich ja nicht ohne Grund. Anders als im Westen konnte man sich in der Deutschen Demokratischen Republik aber nicht gegen die Umweltzerstörung wehren. Früher war alles besser? Wer im sozialistischen Teil Deutschlands groß geworden ist, der wird um nichts auf der Welt tauschen wollen mit dem Gestern.

Modern marode

Ich lernte jedenfalls damals in Schwarze Pumpe, dass der Sozialismus an seiner Basis ganz schön im Argen lag: Die Rohkohle hatte sich in die Förderbänder gefressen, die Flansche hielten zusammen, weil sie mit Drähten geflickt waren, ein Drittel der Brikettpressen stand still, weil ständig etwas kaputt war. Das modernste Gaskombinat der DDR war ein verdrecktes Provisorium, in dem immer etwas in die Luft flog, Ersatzteile fehlten und die Planerfüllung allenfalls als Satire betrachtet wurde.

In meiner Schicht waren drei Kollegen schon nach dem Frühstück besoffen, zwei andere waren erst gar nicht gekommen. Der Meister pflegte ab Schichthälfte ein Nickerchen zu machen. Nach der Schicht verausgabte er sich bei der Schwarzarbeit – mit einem Kumpel auf dem Bau.

Dabei war hier in der Lausitz alles deutlich weniger schlimm als im anderen Braunkohlerevier, im Mitteldeutschen bei Leipzig. Brikettfabriken wie die in Espenhain waren dort schon zu Kriegszeiten in Betrieb. Entsprechend alt und verschlissen war die Technik. Außerdem ist die Kohle dort wesentlich schwefelreicher, was den sauren Regen zur Folge hatte, der nahezu den kompletten Baumbestand im Erzgebirge vernichtete. Mitte der achtziger Jahre gab es auf dem gesamten Gebirgskamm keinen einzigen Flecken mehr, in dem gesunder Wald zu finden war. Offiziell galten Ende der achtziger Jahre 54 Prozent des DDR-Waldes als krank.

Natürlich machte der saure Regen keinen Umweg für die Städte. Hier griff er die Bausubstanz an, das Kronentor des Dresdner Zwingers genauso wie die Wohnung daheim im Universitätsstädtchen Freiberg. Wobei die Menschen hier vor allem unter der „vitaminreichen Luft“ litten, wie der Volksmund spöttelte: „A-, B- und C-Luft“ – Arsen, Blei und Cadmium. Aktenkundig gab es in Freiberg die höchste Missgeburtenrate Mitteleuropas. Aber die Akten wurden von der Stasi wie ein Staatsgeheimnis überwacht.

Die Italiener hatten Ende der siebziger Jahre eine Fabrik an der Freiberger Mulde gebaut, in der Autobatterien eingeschmolzen wurden. Natürlich hatte das in der kleinen Bergarbeiterstadt mächtig für Furore gesorgt: Die Mädchen waren wochenlang auf der Pirsch, um sich einen Luigi oder Toni zu angeln. Sie wollten raus aus dem Nest in die große weite Welt. Manche schafften es bis nach Sizilien. Und wurden dort reichlich unglücklich.

Das italienische Werk an der Freiberger Mulde funktionierte ebenfalls nicht so, wie es sollte. Angeblich waren die Emissionen viel zu hoch. Als wir beim Rat der Stadt nach Messergebnissen fragten und Untersuchungen forderten und Bodenwerte, interessierte sich die Stasi für uns. Im November 1982 war die „Anordnung zur Sicherung des Geheimschutzes auf dem Gebiet der Umweltdaten“ erlassen worden, die faktisch verbot, nach Daten zur Umweltsituation auch nur zu fragen.

Bei den Flüssen musste man das gar nicht. Es reichte die „optische Analyse“. Flüsse gab es vor der Papierfabrik, vor dem Chemiewerk, vor der Wäscherei. Danach gab es Kloaken. Von den 2.900 Flusskilometern der DDR waren 2.400 praktisch tot. In Weißenborn gab es zum Beispiel die erste Papierfabrik an der Freiberger Mulde. Ab da war der Fluss 300 Kilometer ein stinkender Abwasserleiter mit tanzendem Schaum. Greenpeace nahm nach der Wende Proben: „Die Mulde führt Wasser mit wenig Sauerstoff und einer hohen organischen Belastung (pro Liter bis zu 100 Milligramm)“, heißt es in der Elbestudie von 1990. So hatten wir uns das nach der optischen Analyse auch schon zusammengereimt.

Selbstverständlich gab es auch intakte Natur. Die Naturschützer der DDR verwiesen stolz darauf, das Land beheimate die höchste Seeadler-Brutkonzentration Europas. Im Jahr 1984 waren es 110 Paare im sozialistischen Deutschland. Bei den Kapitalisten in der BRD waren es ganze fünf. Meine Mutter drängte mich auch, so oft es ging in den Zellwald zu fahren – der gesunden Luft wegen.

Der Mief aus Brikettschornsteinen, Industrieschloten und Trabi-Abgasen hatte mich als Kind ständig mit Bronchitis gequält. In Schwarze Pumpe musste ich da wieder durch. „Wenn Pumpe dreckt, sieht man hier nüschte“, sagte die Herbergsmutter des AWK 3, des Arbeiterwohnkomplexes, in den man mich quartiert hatte. „Wenn Pumpe dreckt“ bedeutete: Der Wind stand schlecht. Zum Gestank kam dann eben jener Ruß und Staub, der jeden Waschgang zu Nichte machte. Trotzdem ist es im Rückblick fast unvorstellbar, dass man von dem Wohnkomplex aus das Gaskombinat tatsächlich nicht mehr erkennen konnte. Das 800 Hektar große Areal mit seinen drei Kraftwerken, drei Brikettfabriken, zwei Kokereien, mit den Kohlebunkern, dem Gefängnis – oder „Umerziehungslager“, wie sie hier sagten –, seinen Schaltwarten und den Druckvergasungsanlagen lag kaum 500 Meter weit weg und konnte doch gar nicht zu übersehen sein.

Fettiger Film

Aber vielleicht war es ja besser, hier gar nicht so genau hingucken zu müssen. Die Möbel im Arbeiterwohnkomplex 3 waren mit einer fettigen Filmschicht überzogen, die Fenster mit Klebestreifen abgedichtet, der den Staub draußen halten sollte. Die Wände bestanden aus Spanplatten, was schlafraubend war, wenn sich die Nachbarn stritten. Unter der Dusche saß der Schichtleiter, in der Hand eine Wodka-Flasche, den Kopf auf der Brust, und schlief. Zwei Jobs waren auch nicht die Lösung.

Die Menschen in Schwarze Pumpe wurden regelmäßig medizinisch untersucht. Was sie für Krankheiten hatten, erfuhren sie aber nicht. Immerhin hätten sie in der Zeitschrift Das deutsche Gesundheitswesen 1984 lesen können: Am stärksten stiegen die Meldungen zum Nationalen Krebsregister der DDR in jenen Bezirken, die durch Braunkohletagebau und Großkraftwerke unter den größten Umweltbelastungen litten. Aber vermutlich war unter den Schwarze Pumpern niemand, der das Ärzteblatt abonniert hatte.

Die Förderung von Rohbraunkohle stieg in der DDR von 258 Millionen Tonnen im Jahr 1980 auf 296 Millionen im Jahr 1984. Das Gaskombinat Schwarze Pumpe war jetzt der größte Braunkohlebetrieb der Welt. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik werden heute 170 Millionen Tonnen abgebaut, das meiste davon im Rheinland in den drei Großtagebauen Garzweiler, Hambach und Inden.

Aber die DDR wollte ihren Braunkohleabbau bis 1990 auf mindestens 325 Millionen Tonnen jährlich steigern. Im Nachhinein ist deshalb offensichtlich, was mir das Leben mit der Erfahrung in der sozialistischen Arbeitswelt in Schwarze Pumpe sagen wollte: Ich musste dringend etwas dagegen unternehmen.

Nick Reimer gründete 1989 die DDR-Umweltzeitschrift ÖkoStroika.

Das AWK 3, der Arbeiterwohnkomplex, in dem er einst wohnte, ist abgerissen, genauso wie die Brikettfabrik und der Rest des Gaskombinats

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