Das Papier ist eindeutig: Sollte der Fotoapparat oder andere persönliche Dinge verstrahlt werden, dann haftet der Besucher. „Herzlich willkommen in Tschernobyl“, sagt ein pausbackiger Hüne in Militärkluft und bittet, die Haftungsbefreiung nun gegenzuzeichnen. Nikolai Fomin ist 25 und hat 2010 die staatliche Tourismus-Akademie in Kiew absolviert. Seither führt er Touristen durch die Todeszone um das Atomkraftwerk von Tschernobyl. Erst nachdem alle Teilnehmer das Papier unterschrieben haben, wird er sagen: „Ich wünsche angenehmen Aufenthalt!“
Heute hat George unterschrieben, ein Mittdreißiger aus London, ebenso wie Christian und Wiktor, zwei Rumänen, die in Wien studieren. Warum haben sie diese Reise für 160 Dollar gebucht? „Wegen Fukushima“, sagen die Studenten: Sie wollten sich in Tschernobyl ein Bild davon machen, was derzeit in Japan passiert. George ist Jurist. Er sagt: „Ich suche ein reales Gefühl für die abstrakte Debatte um die Atomtechnik.“ Ein weißer VW-Bus steht am „Denkmal der Liquidatoren“ bereit. Also los!
Bauarbeiter bessern die Winterschäden der Straße zum Atomkraftwerk aus. Reiseführer Nikolai reicht George einen Geigerzähler und ernennt ihn zum „Strahlenschutzbeauftragten“. „Biep – Biep – Biebiep“ – das Messgerät zeigt 17 Mikrosievert pro Stunde an, nicht wesentlich mehr als die natürliche Hintergrundstrahlung in Kiew, Berlin oder Castrop-Rauxel. Am Horizont wird der Umriss des Kraftwerks sichtbar, dessen Name 25 Jahre lang für den größten Atom-Unfall stand, dessen Wiederholung bis heute kaum jemand anzunehmen bereit war. Einst plante die Sowjetunion hier mit elf Reaktoren den größten atomaren Kraftwerkspark der Welt. Nach dem Unfall wurden die Bauarbeiten eingestellt. Die weitgehend fertigen Hallen der Blöcke 5 und 6 dienen inzwischen als Zwischenlager für den Müll der atomaren Katastrophe.
„Erster Tagesordnungspunkt: der Rote Wald“, kündigt Nikolai an. „Biebiep – Biep – Biep“, signalisiert der Geigerzähler zunächst noch ruhig. Plötzlich aber fängt das Messgerät zu schreien an, es überschlägt sich, ändert schließlich seinen Ton: Wie eine Sirene heult der Geigerzähler jetzt. Nikolai bittet den Fahrer, zu halten. Das Messgerät weist 1120 Mikrosievert stündlich aus, zehn Mal so viel wie bei einer Röntgenuntersuchung. „Hierin wurde damals besonders viel Radioaktivität geweht“, sagt Nikolai. Wochen nach dem Unglück hätten sich die Bäume zuerst gelb verfärbt, „als hätte jemand Farbe über sie gegossen“. Monate später schließlich tauchte die Radioaktivität die Pflanzen in ein tiefes Rot, „daher der Name: Roter Wald“.
Zwei Stunden in der Zeitkapsel
Mittlerweile sind die meisten Bäume gefällt. „Aber die Strahlung bleibt natürlich“, sagt Nikolai. Zum Beweis nimmt er den Geigerzähler und verlässt die Straße. „1.700!“, ruft er, macht ein Dutzend Schritte weiter, „2.300!“, und dann noch drei: „3.100!“ Das Messgerät gebärdet sich wie wild. „3.500!“ – dann sprintet der Reiseleiter zurück: „Dawai, dawai“, ruft er und dann zum Fahrer „Gib Gas!“. Die Reifen quietschen, der Motor heult. Der Geigerzähler fällt kurze Zeit später zurück in sein monotones Piepsen.
Die Touristen sind am Morgen in Kiew gestartet, im Bus haben sie einen Dokumentarfilm gesehen. Es war ein schlecht vorbereitetes Experiment, dass die Katastrophe im Kraftwerk „W. I. Lenina“ verursacht hatte. Die Betriebsmannschaft sollte den Nachweis erbringen, dass der Reaktor auch nach einen vollständigen Stromausfall noch sicher zu bedienen sein würde. Der Betrieb des Block 4 war von der sowjetischen Atombehörde unter dem Vorbehalt erteilt worden, dass dieser Nachweis des 1983 ans Netz gegangenen Reaktors nachgereicht wird. Aber dazu kam es nicht: Am 26. April 1986 explodierte um 1 Uhr, 23 Minuten und 40 Sekunden der Reaktor.
Was nun folgte, sollte sich 25 Jahre später in Fukushima wiederholen: Chaotische Informationspolitik führte dazu, dass niemand genau wusste, was eigentlich passiert war. „Die Kraftwerksleitung erklärte mir, der Reaktor laufe stabil, die Lage sei unter Kontrolle“, sagt der damalige Staatschef Michael Gorbatschow in der im Bus gezeigten Dokumentation. Erst die Daten aus der Messstation im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark sollen ihm Gewissheit gegeben haben, „dass etwas schreckliches passiert sein musste“. Auch in Japan gab der Kraftwerksbetreiber Tepco wiederholt Entwarnung. Erst die Messdaten von Greenpeace veranlassten die Behörden, die Evakuierungszone rund um das Kraftwerk Fukushima auszuweiten.
Eine sozialistische Musterstadt
Die Stadt Prypjat liegt in Sichtweite der Tschernobyl-Reaktoren. 49.000 Menschen lebten vor 25 Jahren dort. „Das Durchschnittsalter lag bei 26 Jahren, Prypjat war eine sozialistische Musterstadt“, sagt Reiseführer Nikolai. Erst die Warnung aus Forsmark sorgte fast zwei Tage nach der Explosion dafür, dass die Einwohner in 1.200 Bussen evakuiert wurden. Man ließ sie in dem Glauben, nach wenigen Tagen in ihre Wohnungen, in ihr altes Leben zurückkehren zu können. Das Dekret lautete: „Nur das Allernötigste mitnehmen!“ In Wahrheit sollten die Prypjater in diesem Moment ihre Vergangenheit für immer verlieren.
Der VW-Bus hält am Ortseingang, Nikolai reicht dem Posten die Genehmigung durchs Fenster. Der Schlagbaum öffnet sich. Durch Platten-Wohnblocks geht es über das Lenin-Prospekt ins Zentrum. Hier steht das Hotel, die Polizeiwache, ein Restaurant und der „Kulturpalast der Energetiker“. Der Geigerzähler piept sonor bei 2700 Mikrosievert, keine Gefahr. „Sie sollten sich allerdings vor Moos hüten“, rät der Reiseleiter. Moos absorbiere nämlich Radioaktivität. Nikolai hält das Messgerät auf eine grüne Bodenfläche. Sofort gibt es Sirenenlärm.
Zwei Stunden Aufenthalt sieht das Programm in der Geisterstadt vor. In der Eingangshalle des Kulturpalastes strahlen noch Reste von üppigen Wandmalereien, in den Trümmern liegt das Mischpult der Diskothek „Edison 2“. Im Theatersaal steht ein Plakat mit der Aufschrift „CCCP – 60 let“ an der Wand, „UdSSR – 60 Jahre“. Im Zimmer 426 des Hotels Polissia wächst eine Birke in der Mitte des Raumes. „Butter“, „Bier“, „Früchte“ steht über den Regalresten im Zentralkaufhaus.
Nikolai, warum ist hier alles so zerstört? „Der Frust“, sagt der, „Frust, Alkohol, Ohnmacht – im Prinzip haben Vandalen die ganze Stadt kurz und klein geschlagen.“ Kaum eine Fensterscheibe blieb verschont, auch der „Vergnügungspark“ ist übersäet mit leeren Wodkaflaschen. Ursprünglich sollten Kinderkarussell, Autoscooter oder Riesenrad am 1. Mai 1986, dem Tag der Werktätigen, eröffnet werden. Dazu kam es nicht mehr.
In mancher Wohnung scheint das Leben vor der Katastrophe konserviert zu sein. Kalender hängen an der Wand, in denen Geburtstage eingetragen sind, auf der Wäscheleine warten Klammern auf Verwendung, in den Schrankwänden stehen Bücher. Auch in den Schulen scheint die Zeit stehen geblieben: Mathehefte, Geschichtsbücher und Aufsätze, die Lenins Weitsicht preisen, bunte Papierraketen an den Wänden, auf denen die Passfotos der Klassenbesten kleben. Die Klassenbücher weisen viele Vieren und Fünfen aus – Höchstnoten im Schulalltag der Sowjetunion.
Mittag in der Kraftwerkskantine
Nächster Tagesordnungspunkt der Reise: Mittagessen in der Betriebskantine des Atomkraftwerkes. George, der Brite, sagt: „Danke, keinen Hunger“. Nikolai kennt das bereits, regelmäßig würden sich hier Touristen weigern. „Ich erkläre Ihnen dann, dass das Sperrgebiet keine menschenleere Gegend ist. Derzeit arbeiten hier 7.000 Leute, 3.400 allein im Kraftwerk. Es geht darum, die Reaktorblöcke zurückzubauen, hier wird ein Zwischenlager betrieben und dann wird ja auch die neue Schutzhülle gebaut. Tausende Arbeiter brauchen auch eine gute Kantine und es ist klar, dass die Speisen strahlenfrei sind: Radioaktivität gibt es hier genug, und wer seine Dosis voll hat, der muss die Zone verlassen“. Es gibt Borschtsch und Geschnetzeltes mit Bratkartoffeln, dazu einen Salatteller, Joghurt, Brot. George hat plötzlich Riesenhunger.
„Jetzt kommt die Hauptattraktion“, kündigt Nikolai an. Der Bus rollt an der Stacheldraht bewährten Ostmauer des AKW entlang, Block 1, dann der Schornstein, Block 2, dann das Zwischenlager. Autos und Arbeiter kommen entgegen, die Weiden tragen erste Kätzchen. Dann kommen Block 3 und 4 ins Blickfeld, der Bus hält am „Dokumentationszentrum Tschernobyl“, vielleicht 120 Meter von dem Sarkopharg, der Schutzhülle um den Katastrophen-Reaktor. „Sie sehen hier jede Menge Kameras, die uns überwachen! Halten sie sich also bitte daran: Fotos nur in Richtung des Reaktors, andernfalls riskieren Sie eine Beschlagnahmung ihrer Chip-Karten“. Nikolai erzählt, dass seit den Anschlägen vom 11. September 2001 auch hier verschärfte Sicherheitsauflagen gelten.
Der Geigerzähler zeigt 400 Mikrosievert, die beiden Rumänen gehen dem Reaktor ein paar Schritte entgegen, 490 Mikrosievert. Nikolai erzählt, dass direkt an der Schutzhülle 200.000 Mikrosievert gemessen werden, eine Dosis, die nach wenigen Stunden tötet. Die Dokumentation im Bus hatte den Kampf gezeigt, der hier vor 25 Jahren stattgefunden hat: Hubschrauber warfen hunderte Tonnen Sand, Lehm, Blei und Bor ab, bis nach zehn Tagen die Strahlung soweit eingedämmt war, dass die eigentliche Arbeit beginnen konnte. Weil die Technik bei so viel Radioaktivität versagte, warfen junge Männer, oft Freiwillige, verstrahlte Klumpen mit der Schaufel vom Dach des Reaktors 3, damit der nicht auch explodierte. Bergleute und Metro-Erbauer gruben einen Tunnel unter Block 4, um zu verhindern, dass die Kernschmelze in den Boden drang.
Die Nachfrage ist riesig
Zurück in der Stadt Tschernobyl, bedankt sich Nikolai für die Aufmerksamkeit und wünscht allen einen guten Nachhause-Weg. 120 Kilometer liegt Kiew entfernt, die Touristen werden in zwei, drei Stunden unter der Hoteldusche stehen. Nikolai bleibt in der Sperrzone. „Wir sind acht Führer, die sich abwechseln“, sagt er. Im letzten Jahr haben sie 7.000 Touristen durch die Zone begleitet. „Hält der Trend weiter so an, werden wir diese Marke in diesem Jahr deutlich überschreiten“, sagt Nikolai. Woher diese Konjunktur? „Vielleicht liegt das an Fukushima, oder einfach nur daran, dass sich die Tschernobyl-Katastrophe zum 25-sten Male jährt. Im Moment jedenfalls ist die Nachfrage riesig.“
Angestellt ist Nikolai beim Staat. Warum er diesen Job macht? „Ich bin hier Teil eines Menschheits-Experiments. Was wird aus einem atomar verseuchten Gebiet, das einst bewohnt war? An diesem Experiment selbst teilzunehmen und die Ergebnisse nicht nur aus der Zeitung zu erfahren, das hat mich gereizt.“ Nikolai verschweigt nicht, dass der Job gut bezahlt ist. „Und auch die Arbeitszeit ist attraktiv: Der 15 Tage-Schicht folgt einer halber freier Monat. Ich reise viel“. Hat er keine Angst vor der Strahlung? „Ich habe auf dieser Führung 30 Mikrosievert abbekommen, etwa soviel wie bei einem Interkontinentalflug“. Manager, Piloten, Stewardessen lebten deutlich gefährlicher, sagt er. Auf seinem Strahlen-Jahreskonto habe er aktuell 4.400 Mikrosievert. Für Menschen, die in Deutschland im Beruf atomarer Strahlung ausgesetzt sind, gilt ein Jahresgrenzwert von 20.000 Mikrosievert.
Sonnenuntergang. George, Christian und Wiktor stürzen sich vermutlich gerade ins Nachtleben von Kiew. Und wie sieht das Nachtleben von Tschernobyl aus? „Ich treibe Sport und lese viel“, sagt Nikolai Fomin. Natürlich gebe es auch hier zwei, drei Pubs: „Die interessieren mich aber nicht. Alkohol ist viel zu schädlich für die Gesundheit.“
Nick Reimer ist Chefredakteur von
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