Fischsterben an der Oder: Die Ursachen sind jetzt klar, aber die Menschen vor Ort warnen
Naturschutz In Deutschland und Polen legen Experten Berichte zur Katastrophe an der Oder vor. Doch es geht um mehr als eine Goldalge, warnen die Menschen auf der einen Uferseite. Ein Besuch im Nationalpark und in Schwedt
Das Laub der Büsche ist schon knallrot gefärbt im Lunow-Stolpe-Polder, gleich hinter dem Deich äst ein Sprung Rehe. Die Oder fließt hier mit spiegelglatter Strömung, am Ufer gründeln Höckerschwäne, eine Gänseschar steuert schnatternd auf sattes Grün im Nationalpark Unteres Odertal zu. Die totale Idylle.
Könnte man meinen. „Nicht ein einziger Fahrradfahrer“, brummt Michael Tautenhahn, stellvertretender Leiter des einzigen Auen-Nationalparks in Deutschland. Normalerweise wird es zu Beginn des Herbstes geschäftig zwischen Ost- und Westufer der Oder, das bis zu hundert Meter ansteigt. Einige Tausend Kraniche suchen hier ihr Schlafquartier, später folgen Krickenten, Blässgänse und die eleganten Singschwän
chwäne, was viele Hundert Naturliebhaber, die dies beobachten wollen, anzieht. Angler gehen im Herbst hier an der Oder gern auf Zander oder Wels und dann führt ja auch noch der Neiße-Oder-Ostsee-Radweg durch den Nationalpark, gut ausgebaut und kilometerweit vom nächsten Auto entfernt.In diesem Jahr ist alles anders; nicht mal Radfahrer! Im August hatten apokalyptische Bilder für Entsetzen gesorgt, auf der Oder trieben tonnenweise Fischkadaver, vom kleinen Steinbeißer über Rotfedern, Karauschen, Blei, Rapfen oder Stör bis zum Zwei-Meter-Wels. Weil es sehr heiß in jenen Tagen war, begann die tote Flussfracht schnell zu stinken – bestialisch, wie Fernsehreporter von vor Ort glaubhaft vermittelten.Der vorletzte Berufsfischer„Hilfreich war das nicht gerade“, sagt Heidi Dietrich, die in Friedrichsthal die wunderschöne Pension „Zur Tabakblüte“ betreibt. Früher wurden hier in der Scheune tatsächlich Tabakblätter getrocknet, heute gehen die Geschäfte schwer. „Vor allem junge Leute mit Kindern haben abgesagt, manche fragten uns, wo unser Trinkwasser herkommt“, erzählt die Pensionswirtin. Offensichtlich keine unberechtigte Frage: Die „Tabakblüte“ liegt nur wenige Meter neben dem Nationalpark und versorgt sich über einen eigenen Hausbrunnen. Eine Zeit lang galten auch Quecksilber, Rückstände aus Lösungsmitteln und andere toxische Chemikalien als mögliche Ursache des Fischsterbens. Jedenfalls wurden erhöhte Mengen Quecksilber, Rückstände aus Lösungsmitteln und andere toxische Chemikalien in Wasserproben aus der Oder gefunden.Auf dem Marktplatz von Schwedt an der Oder steht ein echtes Original mit seinem Wagen: Helmut Zahn, Flussfischer auf der Oder. Geräucherten Aal hat er im Angebot, Hering, Heilbutt oder Makrele, alles aus Holland, denn Oderfisch, der hier jahrelang gefragt war, den will jetzt keiner mehr. „Von der Hygieneseite her könnten wir wieder fischen, aber die Leute sind skeptisch“, sagt er. Es wäre ja auch nicht vernünftig: „Die Bestände sind um bis zu 60 Prozent eingebrochen, da lohnt ja das Benzin nicht. Außerdem: Alles, was du jetzt rausholst, kann nicht mehr laichen, also nicht zur Erholung beitragen.“ Zwei Berufsfischer gibt es noch auf der deutschen Oder-Seite, Helmut Zahn muss den Gürtel deutlich enger schnallen. „Staatliche Unterstützung? Nee, an so einen Flussfischer denkt doch niemand!“Dabei sind es nicht nur die Fische, die in der Oder umgekommen sind. „Ein Mitarbeiter ist im Tauchgang runter, um die Muschelbänke zu untersuchen“, sagt der stellvertretende Nationalparkleiter Michael Tautenhahn. Die Untersuchungen ergaben, dass die Muschelbänke im günstigsten Fall nur 40 Prozent tote Tiere aufweisen, im ungünstigsten aber über 80 Prozent. „Muscheln und Schnecken sind die Lunge des Flusses“, sagt Tautenhahn, sie würden die Schwebteile – die unter anderem auf zu viel Dünger oder Gülle aus der Landwirtschaft zurückzuführen sind – filtern und den Fluss auf diese Art reinigen. Ihr Tod wird sich noch in Jahren bemerkbar machen, denn jetzt gelangen diese Stoffe ungefiltert in die Ostsee und sorgen dort für eine weitere Eutrophierung. Bedeutet: Das Algenwachstum wird dort stark ansteigen und dem Ostseewasser Sauerstoff entziehen, was dem ohnehin schwer angeschlagenen Binnenmeer weiter zusetzen wird. In der Ostsee gibt es heute schon sauerstoffarme Totwassergebiete mit einer Fläche dreimal so groß wie Mecklenburg-Vorpommern.Goldalge Prymnesium parvum war Auslöser des Fischsterbens an der OderAber es geht an der Oder gar nicht um Hecht, Döbel oder Flussmuschel, es geht nicht um zusammengebrochene Biotope, intakte Landschaft oder die Ostsee. An der Oder geht es um Politik. Die Wasserrahmenrichtlinie der EU schreibt, grob gesagt, vor, dass sich der Zustand der Flüsse verbessern muss. Deutschland kategorisiert die Oder als „weitgehend unverbauten Fluss“, was die Bundesrepublik verpflichtet, einen „guten ökologischen Zustand“ wiederherzustellen – also zum Rückbau von Uferbefestigungen, Steinwällen und anderen Flussbauten, für ein natürliches Ufer. Polen hingegen hat die Oder als vom Menschen „erheblich verändertes“ Gewässer eingestuft. Mit dieser unteren Einstufung muss lediglich das „gute ökologische Potenzial“ ausgeschöpft werden – und das definiert sich nur über die Wasserqualität.Unstrittig ist, dass die Goldalge Prymnesium parvum Auslöser des Fischsterbens war. Diese eigentlich im salzigen Brackwasser beheimatete Art produziert bei Massenentwicklungen ein Toxin, das die Kiemen von wechselwarmen Tieren zerstört. Über alles andere aber wird gestritten. „Die Katastrophe in der Oder wurde nicht von Menschen verursacht“, erklärte Polens Präsident Andrzej Duda Ende August. Also kann auch niemand zur Verantwortung gezogen werden. Wie aber kommt eine Salzwasseralge ins Süßwasser der Oder? Polnische Parlamentarier von der oppositionellen Bürgerkoalition (KO) dokumentierten 282 illegale Einleitungen in die Oder, darunter auch Salzlaugen aus dem Bergbau – so viel, dass Brandenburger Messstellen im August plötzlich eine stark ansteigende Salzkonzentration registrierten.In Polen ist gerade Wahlkampf und Angeln ein Volkssport, weshalb sich die regierende PiS-Partei keinen Umweltskandal erlauben kann. Einige der in Verdacht geratenen Unternehmen sind Staatskonzerne, weshalb die Erzählung „von der natürlichen Alge“ für die PiS die günstigste ist. Andererseits will Deutschland für die Raffinerie in Schwedt russisches Erdöl durch solches ersetzen, das aus dem polnischen Hafen Danzig kommt. Ein eskalierender Streit über die Schuld am Fischsterben wird solche Pläne sicherlich nicht beflügeln.Der nächste Containerhafen„Natürlich kann sich das Flussbiotop erholen“, sagt Fischer Helmut Zahn. Fische seien robust, könnten verlorenen Lebensraum schnell zurückerobern. „Aber erstens braucht das seine Zeit und zweitens darf da keine neue Katastrophe kommen.“ Genau die aber sieht er in vollem Gange: Trotz juristischer Auseinandersetzung gehen die Bauten zur Oder-Vertiefung auf polnischer Seite unvermindert weiter, derzeit werden etwa in Słubice gegenüber von Frankfurt (Oder) neue Buhnen in den Fluss gerammt. „Das soll die Fließgeschwindigkeit erhöhen, damit sich der Fluss tiefer eingräbt und die Fahrrinne vertieft“, sagt Zahn.Polen plant in Swinemünde an der Ostsee einen riesigen, neuen Containerhafen, der nur funktioniert, wenn die Ware auch über die Oder verschifft werden kann. Dummerweise ist die Fahrrinne dafür nicht überall tief genug und dummerweise sind im Sediment des Flusses noch aus sozialistischen Zeiten Chemikalien und Schwermetalle wie Quecksilber abgelagert, die mobil werden, wenn der Fluss sich tiefer eingräbt. „Das könnte die hohen Quecksilberwerte an den Messstellen erklären“, sagt der Fischer. Umsatzfördernd seien die jedenfalls nicht.„Die Modernisierung der Oder in Gestalt von Wasserstufen und eines Containerterminals hat für uns Priorität“, erklärte Marek Gróbarczyk, polnischer Vizeminister für Infrastruktur. Nicht nur das: Mit Tschechien und Ungarn ist verabredet, über die Oder eine Ostsee-Schwarzmeer-Wasserstraße zu bauen. Für das 22-Milliarden-Euro-Projekt stellte die tschechische Regierung des damaligen Premierministers Andrej Babiš 2020 die ersten 15 Milliarden Kronen (550 Millionen Euro) zur Verfügung. Marek Gróbarczyk: „Wir werden keinen Schritt zurück machen. Die deutsche Umweltministerin rufen wir zur Ordnung, damit sie sich nicht mehr in dieser Weise autoritär zu polnischen Flüssen äußert, da dies ein Skandal ist!“Tatsächlich stemmt sich Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Bündnisgrüne) gegen den Oder-Ausbau. „Wir brauchen ein neues, gemeinsames Verständnis von den Folgen von Hitze und Dürre und was unseren Gewässern noch zugemutet werden kann“, sagte sie dem Tagesspiegel. Die Verantwortlichen aus Polen und Deutschland sind von diesem „gemeinsamen Verständnis“ weit entfernt: Nun wurden gleich zwei Gutachten zur Ursache des Fischsterbens vorgestellt, eines von der deutschen, eines von der polnischen Seite.Placeholder infobox-1„Wenn es keine eindeutige Ursache gibt, wird es auch keine Lehren geben“, sagt Michael Tautenhahn vom Nationalpark Unteres Odertal. Das Fischsterben sei ja nicht das erste seiner Art, „nach dem Chemieunfall im Schweizer Konzern Sandoz trieben Hunderte Tonnen tote Fischen den Rhein flussab“. Damals hatten die Flussanrainer als Lehre aus dem Debakel die IKSR gegründet, die „Internationale Kommission zum Schutz des Rheins“. Mit Erfolg, so Tautenhahn: „Der Rhein ist heute so sauber wie zuletzt vor einhundert Jahren.“An der Donau, an der Elbe, das Beispiel fand viele Nachahmer. Auch an der Oder gibt es eine solche Kommission, die IKSO. Sie wird von den Polen koordiniert. Man müsse das verstehen, sagt Tautenhahn, „90 Prozent des Einzugsgebietes der Oder liegen nun mal in Polen“. Aber leider heiße diese Kommission nicht „Internationale Kommission zum Schutz der Oder“, sondern „Internationale Kommission zum Schutz der Oder vor Verunreinigung“. Ein feiner politischer Zungenschlag, damit der Grenzfluss weiter ausgebaut werden kann.
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