Gummistiefel. Es war ausgerechnet dieses plumpe Schuhwerk, das dem ersten rot-grünen Bundeskanzler in der Geschichte der Bundesrepublik den Job rettete. Gerhard Schröder (SPD) lag im Wahlkampf des Jahres 2002 in der Wählergunst hoffnungslos abgeschlagen hinter seinem Herausforderer Edmund Stoiber (CSU). Aber dann schickte der Himmel Regen. Sehr viel Regen. Auf dem Kamm des Erzgebirges fielen binnen 24 Stunden bis zu 312 Liter pro Quadratmeter – so viel wie umgerechnet 31 Wassereimer aufeinandergestapelt. Und weil Wasser nun mal ins Tal fließt, richtete dieser Rekordniederschlag verheerende Schäden an.
Also griff Gerhard Schröder zu den Gummistiefeln, reiste vor Ort an und kümmerte sich. Am Wahlabend lag er 6.000 Stimmen vor Edmund Stoiber.
Auch Kanzle
Auch Kanzlerkandidat Armin Laschet (CDU) hat sich in der vergangenen Woche Gummistiefel übergezogen und ist in die Hochwassergebiete Südwestfalens gereist. Die Stadt Hagen wurde komplett überflutet, ein Seniorenheim musste evakuiert werden, die Einsatzkräfte berichteten von eingestürzten Wänden und Gebäudeteilen, Geröllmassen versperrten die Straßen. „Als noch die Sonne schien und niemand erahnen konnte, dass etwas passiert, hat man hier in Hagen die Vorbereitungen für den Krisenstab bereits gefällt“, lobte Laschet. Deshalb sei noch Schlimmeres verhindert worden.Was das mit Physik zu tun hat„Ist das noch Wetter oder doch schon der Klimawandel?“, fragte der Bayerische Rundfunk Anfang Juli, als ein „Jahrhundertunwetter“ in Landshut schwere Schäden verursacht hatte. Das oberbayrische Wolfratshausen war von golfballgroßen Hagelkörnern verwüstet worden, in fast allen Regierungsbezirken des Freistaats gab es umgestürzte Bäume, vollgelaufene Keller, gesperrte Bahnstrecken. Aber diese Frage zeugt von einiger Unkenntnis: Klima ist die Summe des Wetters, weshalb „noch“ oder „schon“ in diesem Satz nicht geht. Die Wissenschaft erklärt immer wieder, dass ein einzelnes Wetterphänomen nicht belegen kann, dass der Klimawandel längst da ist. Allerdings erklärt sie uns auch, dass die Mechanismen einer veränderten Erdatmosphäre dafür sorgen, dass sich das Wetter bei uns verändert.Da ist zunächst die Physik: Wärmere Luft kann mehr Wasser speichern, pro Grad zusätzlich saugen sich die Luftmassen mit sieben Prozent mehr Feuchtigkeit voll. Deutschland hat sich nach Angaben des Deutschen Wetterdienstes seit 1881 bereits um 1,6 Grad erhitzt. Die Zahl der Tage, an denen die Temperatur über 30 Grad Celsius steigt, hat sich im gleichen Zeitraum fast verdreifacht, weshalb Starkregenereignisse auch deutlich zugenommen haben.Mehr in der Luft gespeichertes Wasser bedeutet mehr Energie, bedeutet mehr Zerstörungskraft: 2016 traf es das württembergische Braunsbach, die „Perle im Kochertal“ wurde im Mai von einer Sturzflut verwüstet. In Simbach am Inn in Niederbayern sorgte ein Extremregen Anfang Juni 2016 für ein sogenanntes tausendjähriges Hochwasser, im Fachjargon „HQ 1000“. Ein Ereignis, das es statistisch in einem Menschenleben gar nicht geben dürfte: Autos wurden gegen Wände geschleudert, Straßen und Brücken weggerissen, ganze Haushalte verschüttet.2017 traf es Goslar im Harz, 2018 erwischte es zuerst das Vogtland, dann Orte in der Eifel, Dudeldorf zum Beispiel, Kyllburg und Hetzerode. 2019 war Kaufungen nahe Kassel dran und Leißling nördlich von Naumburg an der Saale, 2020 dann das fränkische Herzogenaurach und Mühlhausen in Thüringen. Um nur Beispiele zu nennen.Neben „mehr gespeichertem Wasser“ ist auch der Nordpol an unseren neuen Wetterextremen „schuld“. Beziehungsweise der Jetstream, zu Deutsch „Strahlstrom“: Dieser Höhenwind pfeift mit bis zu 540 Kilometer pro Stunde zwölf Kilometer über unsere Köpfe hinweg. Zum Vergleich: Hurrikan „Patricia“ brachte es 2015 in erdnahen Schichten „nur“ auf 345 Kilometer pro Stunde, die bis dato stärkste je gemessene Windgeschwindigkeit über dem Atlantik. Aber nicht nur seine Geschwindigkeit ist maßgeblich für unser Wetter in Mitteleuropa, sondern auch die Wellenbewegung des Windes: Wie eine endlose Sinuskurve mäandert er von West nach Ost über die Nordhalbkugel, seine Wellenbewegung schiebt die Hoch- und Tiefdruckgebiete weiter und bestimmt so Temperatur, Niederschlag und Sonnenschein bei uns.Placeholder image-1Angetrieben wird dieser Höhenwind wie jeder andere von einer Temperaturdifferenz – in diesem Falle von der zwischen den Tropen und der Arktis. Allerdings erhitzt sich der Nordpolarraum viel stärker als die meisten anderen Weltgegenden, das arktische Meereis schrumpft dramatisch; Studien kommen zu dem Schluss, dass der Nordpol Ende der 2030er Jahre im Sommer eisfrei sein wird. Denn die Erwärmung treibt sich inzwischen selbst an: Helles Eis reflektiert viel Sonnenenergie zurück ins All – ist das Eis jedoch erst mal verschwunden, absorbiert der darunter zum Vorschein kommende dunkle Ozean viel mehr der einfallenden Strahlungsenergie. Dadurch wird die Arktis noch wärmer, noch mehr Eis schmilzt, was noch mehr Strahlungsenergie in den Ozean eindringen lässt – ein Teufelskreis.Die Temperaturdifferenz zu den Tropen sinkt also immer weiter. Und das schwächt den Jetstream. „Dieses Starkwindband gilt eigentlich als Motor für die Hoch- und Tiefdruckgebiete“, sagt die Meteorologin Verena Leyendecker. Weil der Antrieb geringer wird, „kommen die Hochs und Tiefs nicht mehr voran“, so die Expertin vom Wetterdienst Wetteronline. „Deshalb lag das Tief ‚Bernd‘ so lange bei uns und hat uns so lange diesen Niederschlag gebracht.“Aber nicht nur schwere Niederschläge sind Folge der Kraftlosigkeit des Jetstreams, sondern auch extreme Kälte, wie beispielsweise im Dezember 2017, als in Nordamerika die Temperaturen stellenweise auf minus 42 Grad Celsius sanken. Oder extreme Dürre, wie im Jahr 2018 hierzulande. Auch extreme Hitze ist eine Folge des durcheinandergeratenen Jetstreams: 2019 wurden in Duisburg 41,2 Grad Celsius gemessen, so viel wie nie zuvor in Deutschland.NRW auf den hinteren PlätzenDie Unwetterserie im Juni 2021 mit heftigem Starkregen und Hagel hat nach Angaben des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft Schäden in Höhe von 1,7 Milliarden Euro verursacht – der zweitgrößte Hagel- beziehungsweise Regenschaden seit der Elbeflut 2002. Wenig gewagt ist die Schätzung, dass die Unwetter des Julis 2021 diese Schadenssumme übertreffen werden. Denn während Politiker wie Angela Merkel (CDU), Frank-Walter Steinmeier (SPD) oder Armin Laschet (CDU) noch durch die Krisengebiete in Westdeutschland tourten, zerstörten die nächsten Extremregen Orte in Oberbayern und in der Sächsischen Schweiz.Anders als einst Gerhard Schröder werden Armin Laschet die Gummistiefel nichts nützen. Zwar stellte Greenpeace bereits damals in einer Analyse fest, dass „extreme Wetterereignisse die direkte Folge des Klimawandels sind“. Aber Kanzler Schröder musste sich noch nicht zum Thema äußern. Beim aktuellen Kanzlerkandidaten der Union ist das anders. „Wir nehmen diese Starkwetterereignisse, Hitzeereignisse wahr, sie sind verbunden mit Klimawandel“, erklärte Laschet beim Ortsbesuch in Hagen, um sich dann selbst zu loben: „Deshalb ist Nordrhein-Westfalen eines der Länder, das am meisten tut gegen den Klimawandel.“ Als Beleg für diese Aussage führte er das Klimaanpassungsgesetz an, das sein Kabinett beschlossen hat – als erstes Bundesland.Allerdings hat Anpassung an den Klimawandel nichts mit dem Klimaschutz zu tun. Analysiert man die Klimaschutz-Anstrengungen von Nordrhein-Westfalen, nimmt das Bundesland überwiegend hintere Plätze ein. Im „Bundesländerranking zur erfolgreichen Nutzung Erneuerbarer Energien“ liegt NRW auf Platz 13, nur Sachsen, Berlin und das Saarland sind schlechter. Seitdem Vattenfall das Kohlekraftwerk Moorburg in Hamburg abgeschaltet hat, gibt es kein Bundesland, das so viel Strom aus Kohle erzeugt wie NRW: Mehr als 65 Prozent waren es im bevölkerungsreichsten Bundesland 2017. (Die Erhebung stammt aus dem Jahr 2019, neuere Daten gibt es noch nicht.) Aus erneuerbaren Quellen stammten damals dagegen nur zwölf Prozent des Stroms.Normaler Regen als AusnahmeDer „Sechste Bundesländervergleich erneuerbare Energien“ des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung kommt zu dem Schluss: Bei den „Anstrengungen zum technologischen und wirtschaftlichen Wandel“ sind nur vier Bundesländer schlechter als NRW, weniger „Erfolge beim technologischen und wirtschaftlichen Wandel“ hat sogar nur ein Land aufzuweisen: das Saarland. Bei der Anzahl der Patente zu erneuerbaren Energien bezogen auf die Einwohnerzahl liegt Nordrhein-Westfalen auf Platz 11, hier sind nur Brandenburg, Thüringen, Hessen, Bremen und das Saarland schlechter. Immerhin beim Ausbau der Windenergie steht Nordrhein-Westfalen besser da, hier liegt das Land auf Platz 4, was beim flächenmäßig viertgrößten Bundesland allerdings auch nicht verwundert.„Wir müssen diesen Weg Deutschlands in Richtung Klimaneutralität noch schneller weitergehen“, schob Laschet später nach. Und weil nun die Journalisten wissen wollen, was das denn bedeutet, welche politischen Ideen er, der Kanzlerkandidat, hat, entlarvt Laschet seine ganze Ahnungslosigkeit: WDR-Moderatorin Susanne Wieseler bohrte nach und fragte, ob denn ein Kohleausstiegsdatum 2038 noch zu halten sei. Laschets Antwort sorgte selbst in den eigenen Reihen für Entsetzen: „Entschuldigung, weil jetzt so ein Tag ist, ändert man nicht die Politik.“Unter anderem weil Laschet die Politik nicht ändern will, wird das so weitergehen mit dem immer extremeren Wetter. „Normaler Landregen, so, wie wir ihn heute noch kennen, das wird in Zukunft die Ausnahme sein“, sagt Andreas Becker, Niederschlagsexperte beim Deutschen Wetterdienst. Das Erfahrungswissen unseres Lebens im gemäßigten Klima Mitteleuropas wird entwertet: War es früher sinnvoll, wegen der Wasserkraft im Tal zu siedeln, ist es wegen der Wasserkraft heute sinnvoll, aus dem Tal wegzuziehen. Was früher dank der Mühlen oder Sägewerke zu Wohlstand führte, gefährdet diesen heute immer öfter.Dass Deutschland ein wasserreiches Land ist, galt vor zehn Jahren noch als Konsens. In den Trockenjahren 2018 bis 2020 mussten Menschen etwa in Aitrang nahe Kempten oder in Hallstadt (Landkreis Bamberg), in Kelkheim im Taunus oder im niedersächsischen Lauenau mit Trinkwasser notversorgt werden, weil die örtlichen Brunnen versiegt waren. Um Berlin ausreichend mit Spreewasser, das für die Trinkwassergewinnung wichtig ist, zu versorgen, tagte im Sommer 2020 ein Krisenstab im Zwei-Wochen-Rhythmus. Im strukturschwachen Brandenburg gingen die Anwohner gegen die Ansiedlung von Tesla auf die Straße, weil sie befürchten, dass der Autobauer ihnen das Trinkwasser abgräbt. „Wir müssen uns wahrscheinlich auf regional harte Nutzungskonflikte einrichten“, fürchtet Michael Ebling, Präsident des Verbandes Kommunaler Unternehmen VKU.Aber das war natürlich bevor uns „Tief Bernd“ diese schockierenden Bilder schickte. Ist das noch Wetter oder doch schon der Klimawandel? Der Meteorologe Özden Terli, der im ZDF das Wetter präsentiert, kann diese Frage nicht mehr hören. Denn da stecke „eine Abwehrhaltung dahinter oder die Hoffnung, dass wir doch noch nicht in der Klimakrise leben“. Terli zerstört diese Hoffnung: Wir leben bereits in der Klimakrise.Placeholder authorbio-1