Deutschland, Klimaschutz-Vorreiter a. D.

Ampel SPD, Grüne und FDP überblicken nicht, was es heißt, klimaneutral zu werden. Das zeigt sich nicht nur beim Tempolimit
Ausgabe 43/2021
Grün fürs Auto heißt Rot fürs Klima
Grün fürs Auto heißt Rot fürs Klima

Foto: Ina Fassbender/AFP/Getty Images

Vor mehr als 30 Jahren beschloss Deutschland, Vorreiter in Sachen Klimaschutz zu werden: Als eines der ersten Länder der Welt gab sich die Bundesrepublik 1990 ein Reduktionsziel. Die Klimagase sollten bis 2005 um 25 Prozent verringert werden. So weit der Plan der Regierung von Helmut Kohl (CDU). Dummerweise fehlte es an einer Umsetzung und an politischen Instrumenten, die geeignet gewesen wären, dieses Ziel auch zu erreichen. 2005 wurden lediglich 20,7 Prozent weniger Treibhausgase im Vergleich zum Basisjahr 1990 produziert. Dass das Ziel nicht noch weiter verfehlt wurde, lag am wirtschaftlichen Zusammenbruch Ostdeutschlands. Mehr als die Hälfte der eingesparten Klimagase sind darauf zurückzuführen. Die Folgen wirken noch heute nach: mit geringeren Einkommen, der Verödung ganzer Landstriche oder dem Erstarken der AfD.

Atomausstieg, ökologische Steuerreform, Erneuerbare-Energien-Gesetz oder die Förderung der ökologischen Landwirtschaft – die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder brachte einiges auf den Weg, um den Klimaschutz zu beschleunigen. Spätestens seit Angela Merkel 2005 „Klimakanzlerin“ wurde, ging es aber wieder bergab mit dem Tempo der Energiewende. 2013 waren die minus 25 Prozent immer noch nicht geschafft, dafür aber ein Großteil der solaren Arbeitsplätze abgewickelt. Keine Spur von einer Agrar- oder Verkehrswende, der Verkehr sorgt heute sogar für mehr Treibhausgas als 1990. Und statt zu sinken, steigen die Emissionen hierzulande wieder.

Dabei zeigen die Zahlen, wie dramatisch die Lage ist: Nach Erhebung der Meteorologie-Weltorganisation WMO ist die Nutzung der fossilen Energien 2020 coronabedingt zwar zurückgegangen. Die Konzentration von Kohlendioxid ist in der Atmosphäre aber weiter angestiegen. Die Experten schreiben das dem Amazonas-Regenwald zu: Bislang half der uns beim Klimaschutz, indem er Kohlendioxid aus der Luft filterte. Jetzt aber scheint der Punkt erreicht, wo das Regenwald-System kippt: Statt zu speichern, geben kranke Bäume zunehmend Treibhausgas in die Atmosphäre ab, ohne dass der Mensch etwas dagegen unternehmen kann.

Wir müssten jetzt also doppelt so schnell beim Klimaschutz werden, weil wir die Regenwald-Emissionen kompensieren müssen. Was aber machen die künftigen Ampel-Koalitionäre? Sie haben sich schon mal darauf verständigt, dass es in Deutschland kein Tempolimit geben wird. Bis zu drei Millionen Tonnen Treibhausgase würden eingespart, wenn hierzulande Tempo 120 gilt. Das ist mehr, als die Menschen insgesamt in Gambia verantworten – allein unser Bleifuß verursacht so viel Klimagase wie das Alltagsleben von 2,3 Millionen Menschen im Westen Afrikas.

Noch nicht einmal die relativ unumstrittenen Themen werden von den Ampel-Koalitionären angegangen: Es ist vollkommen klar, dass ein Kohleausstieg weit vor dem Jahr 2030 kommen muss. Erstens weil Kohle zunehmend unwirtschaftlich wird. Zweitens weil ein solcher Ausstieg notwendig ist, wollen wir die Klimaerhitzung noch halbwegs beherrschbar halten. Drittens wegen der eigenen Ziele: Deutschland hat sich schon wieder ein Klimaziel gegeben, bis 2030 will die Bundesrepublik 65 Prozent ihrer Treibhausgase reduzieren. Auch auf der Weltklimakonferenz in Glasgow stehen die Reduktionsverpflichtungen der internationalen Gemeinschaft auf der Agenda. Ein Kohleausstieg weit vor dem Jahr 2030 ist weltpolitisch zwingend: Wieso soll Indien aus der Kohle aussteigen, wenn Deutschland an ihr festhält? Wieso soll Chile auf ein neues Kohlekraftwerk verzichten, wenn in Nordrhein-Westfalen 2020 gerade ein neues ans Netz gegangen ist?

Kohleausstieg, ein Verbot von Inlandsflügen, ein stärker steigender CO₂-Preis, der Umzug der Ministerien nach Berlin oder eine Fleischsteuer – dass sich die Politik noch nicht einmal an diese relativ einfachen Themen herantraut, lässt befürchten, dass sie nicht annähernd einen Überblick besitzt, was es bedeutet, bis 2045 klimaneutral zu werden – so wie es die Merkel-Regierung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in diesem Jahr eigentlich beschlossen hat. In einer klimaneutralen Welt darf nicht mehr mit Beton gebaut werden. Es darf keine neuen Straßen geben, Flugzeuge dürfen kein Kerosin mehr tanken, Heizen mit Gas oder gar mit Öl ist obsolet. In einer klimaneutralen Welt müssen die Tierbestände massiv heruntergefahren, die Erneuerbaren drastisch ausgebaut werden, jene Treibhausgase, die dennoch etwa im Ernährungssektor entstehen, müssen aufgefangen, unterirdisch verpresst oder kompensiert werden. In 25 Jahren soll das erreicht sein. Zur Erinnerung: In den ersten 25 Jahren reduzierte Deutschland um 27,8 Prozent. Jetzt sollen es im selben Zeitraum mehr als 60 Prozent werden. Aber SPD, Grüne und FDP versagen selbst beim Tempolimit.

Wie wichtig ein Vorreiter Deutschland wäre, zeigt sich am Erneuerbare-Energien-Gesetz: Anfang der 2000er Jahre kostete eine Kilowattstunde Strom aus der Solarkraft mehr als ein Euro. Weil das Gesetz aber große Nachfrage nach Sonnenkraft und damit Innovationen stimulierte, sank dieser Betrag auf heute unter zehn Cent. Längst sind Biomasse-, Wind-, Solarkraft so billig, dass es sich weltweit nicht mehr lohnt, fossile Kraftwerke zu bauen.

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