Zuerst gab es die Warnung: Wehe, wenn der Regenwald im Amazonasbecken kippt! Das Ökosystem im Herzen Südamerikas ist der größte Kohlenstoffspeicher der Welt, ein sich selbst versorgendes Phänomen. Angetrieben von der Sonne, lassen die Bäume riesige Mengen Wasser zu Wolken verdunsten. „Die regnen dann im Flachland und an den Anden-Hängen ab und versorgen den Regenwald mit neuem Wasser“, sagt Christopher Reyer vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung.
Die bis zu 6.000 Meter hohen Anden als Wasserbarriere: Spätestens hier fällt das Verdunstungswasser aus der Ebene, der Regen speist Flüsse wie den Rio Negro, den Río Huallaga oder den Purus, die sich zum Amazonasfluss vereinen und das ganze Becken mit Wasser versorgen.
ersorgen. An manchen Stellen ist der Fluss bis zu 20 Kilometer breit; der Bodensee bringt es an seiner breitesten Stelle auf 14 Kilometer. Wenn aber zu wenig Wasser verdunstet, etwa weil sehr viel Wald gerodet worden ist, dann kippt das System: Weniger Wolken verursachen weniger Verdunstung, weniger Regen sorgt für weniger Wasser in den Flüssen, was Teile des Amazonasbeckens trocken legt, weshalb noch mehr Bäume absterben und als Verdunster ausfallen und so noch weniger Regen entsteht – ein Teufelskreis.Bislang half der Amazonas-Regenwald dem Menschen: Dank Fotosynthese wird auf 5,5 Millionen Quadratkilometern Kohlendioxid zu Holz umgebaut. Auf einem Quadratkilometer sind bis zu 1.000 verschiedene Bäume produktiv, Wissenschaftler gehen davon aus, dass hier bis zu 200 Gigatonnen Kohlendioxid gespeichert sind – fünfmal so viel, wie die Menschheit in einem Jahr verursacht. Deshalb die Warnung: Wenn der Amazonas-Regenwald „umkippt“, hilft er den Menschen nicht mehr beim Klimaschutz, im Gegenteil, er setzt dann selbst Treibhausgase frei: Abgestorbenes Holz wird nach und nach zu Methan und Kohlendioxid. Das heizt den Klimawandel an: „Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass allein das Absterben des Amazonaswaldes mindestens 0,3 Grad Celsius zur globalen Erwärmung beitragen könnte“, so Reyer, wenngleich diese Zahl noch mit großen Unsicherheiten behaftet sei.Deshalb wird im Amazonasbecken viel geforscht, etwa mit Messtürmen, an deren Spitzen Instrumente installiert wurden, um den Stoff- und Energieaustausch zwischen Wald und darüber liegender Luftschicht zu messen. Der höchste ragt mehr als 300 Meter in den Himmel: Wie viel Kohlendioxid nimmt der Wald auf? Da weite Teile des Amazonas unzugänglich sind, arbeitet die Wissenschaft auch mit Satellitendaten und Computersimulationen.Im März kam eine große, internationale Studie zu dem Schluss, dass der Amazonaswald unmittelbar vor dem Kippen steht. Ein Grund dafür sind die zunehmenden Brandrodungen, bei denen kleine Rußpartikel freigesetzt werden. Diese werden vom Sonnenlicht absorbiert, was die lokale Erwärmung erhöht, so Niederschlagsmuster verändert, wodurch der Wald weiter austrocknet und abstirbt. „Wir haben den Punkt des Systems überschritten, an dem es uns einen zuverlässigen Dienst leistet“, erklärte Studien-Mitautorin Fiona Soper.Dabei war es eigentlich gelungen, die Rodungen zu reduzieren: Wurden 2004 noch 27.772 Quadratkilometer abgefackelt, verringerte sich die Fläche 2012 auf 4.571 Quadratkilometer. Seitdem aber steigen die Zahlen wieder, besonders in der Regierungszeit Jair Bolsonaros. Eine australische Studie kommt zu dem Schluss, dass die Entwaldungsrate unter der aktuellen Regierung 61 Prozent höher ausfällt als in den zehn Jahren zuvor. Allerdings ist es einfach, Bolsonaro die Schuld zu geben: Ein Fünftel des Sojas, das Brasilien als Futtermittel für die Massentierhaltung in die EU liefert, stammt von Waldflächen, die kürzlich illegal gerodet wurden. Bei den Fleischimporten liegt die Quote bei 17 Prozent.Botschaft für den KlimagipfelMittlerweile ist der Effekt sogar messbar. Zwar ging die Verbrennung von fossilen Energieträgern 2020 pandemiebedingt um 5,6 Prozent weltweit zurück – damit auch die Produktion von Treibhausgasen. Trotzdem verzeichnet die Weltwetterorganisation WMO einen Konzentrationsanstieg in der Atmosphäre, der stärker ist als im Durchschnitt der Jahre 2011 bis 2020. Grund dafür ist auch der Amazonaswald, wie eine Langzeitbeobachtung von 2010 bis 2018 an vier Standorten zeigt: Dort hat der Regenwald nicht nur als Kohlenstoff-Sauger nachgelassen, er ist sogar zur CO₂-Quelle geworden. Diese Erkenntnis sei „eine klare, wissenschaftliche Botschaft für die Verhandlungsführer auf der COP26“, sagt der WMO-Generalsekretär. „Bei der gegenwärtigen Zunahme der Treibhausgaskonzentrationen werden wir bis zum Ende dieses Jahrhunderts einen Temperaturanstieg erleben, der weit über den Zielen des Pariser Abkommens von 1,5 bis 2 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau liegt.“Die Menschen müssen also jetzt mehr Klimaschutz betreiben, denn die Emissionen aus dem Amazonas müssen kompensiert werden. Dabei ist der Wald nur eines der 16 Kippelemente. Auch andere Systeme drohen zu kippen. Die arktische Meereisbedeckung etwa: Weil es am Nordpol schon vier Grad wärmer geworden ist, schmilzt mehr Eis, was den darunter liegenden dunklen Ozean freilegt, der mehr Sonnenenergie aufnimmt als das reflektierende Eis – und sich so von selbst weiter erwärmt.