La Grande Nation auf Abwegen

Strom Frankreich setzt auf Atomkraft, doch viele Meiler haben ihren Zenit überschritten. Ersatz ist nicht in Sicht. Schlittert das Land in die Energiekrise?
Ausgabe 42/2021
Blick aus einem Brunnen nahe Gravelines in Frankreich. Das Wasser des angrenzenden Atomkraftwerks soll hier für die Produktion von Flüssigerdgas verwendet werden
Blick aus einem Brunnen nahe Gravelines in Frankreich. Das Wasser des angrenzenden Atomkraftwerks soll hier für die Produktion von Flüssigerdgas verwendet werden

Foto: Denis Charlet/AFP/Getty Images

Frankreich hat Glück, denn Frankreich hat Atomkraft – so jedenfalls hat es Präsident Emmanuel Macron kürzlich in einer Rede gesagt. Atomkraft produziert CO₂-armen Strom, weshalb der „mode de vie“ unserer Nachbarn statistisch nur halb so klimaschädlich ist wie unser Lebensstil. „Es gibt Bereiche, in denen wir als Franzosen und Europäer eine Führungsrolle einnehmen sollten“, sagte Macron und kündigte die Dekarbonisierung der Wirtschaft an.

Dummerweise hat Frankreich Atomkraftwerke, die in den 1970er Jahren gebaut wurden: In der Regel sind solche Anlagen ingenieurtechnisch auf eine Laufzeit von 40 Jahren ausgelegt, danach steigt die Gefahr von Materialermüdung. Die Druckwasserreaktoren in Bugey, Ostfrankreich, sind seit 1978 am Netz, die in Dampierre oder Gravelines, Zentral- und Nordfrankreich, seit 1980. Wenigstens zehn Reaktoren hätten im vergangenen Jahr oder in diesem deshalb abgeschaltet werden sollen, zwei Drittel der 56 französischen Reaktoren müssen in spätestens vier Jahren vom Netz. Frankreich hat deshalb ein Problem: 70 Prozent seines Stromes werden durch Kernspaltung produziert.

Die Atomaufsicht versucht seit Jahren durch umstrittene Laufzeitverlängerungen Zeit zu gewinnen. Ersatz ist aber nirgendwo in Sicht. An der Atlantikküste wird seit 2004 am Standort Flamanville ein „Europäischer Druckwasserreaktor“ (EPR) gebaut. Das Vorzeigeprojekt sollte ursprünglich 2012 zum Fixpreis von 3,2 Milliarden Euro fertiggestellt sein. Seitdem wurde der Betriebsbeginn sieben Mal verschoben, der Rechnungshof beziffert die Kosten auf jetzt über 19 Milliarden Euro. Vielleicht geht der EPR 2024 ans Netz. Wirtschaftlich arbeiten wird er aber angesichts der enormen Kosten nie.

Kraftwerke, zumal Atomkraftwerke, fallen nicht vom Himmel. La Grande Nation droht eine beispiellose Energiekrise. Macron bleibt gar nichts anderes übrig, als daraus ein „Zukunftsprojekt“ zu machen: Eine Milliarde Euro soll in den Ausbau der Atomenergie investiert werden, in neue, kleinere Kraftwerke, die sogenannten Small Modular Reactors. Die seien viel sicherer und produzierten weniger Atommüll, so Macron.

Statt wie in Flamanville 1.300 Megawatt Leistung ans Netz zu schalten, bringen es diese „kleinen modularen Reaktoren“ nur auf bis zu 300 Megawatt. Tatsächlich sind sie billiger, weil sie in Serie in einer Fabrik hergestellt werden sollen. Allerdings gibt es auch Nachteile: Der größte: Es gibt sie noch gar nicht. Die Firma Nuscale Power arbeitet an einem Prototyp mit 50 Megawatt Leistung und „integralem Reaktorbehälter“. Schon ist von einer Renaissance der Atomkraft die Rede; geht alles glatt, wird die vierte Generation von Atomreaktoren in den 2030er Jahren einsatzbereit sein.

Für Frankreichs Stromproblem ist das zu spät. Deshalb kündigte der Präsident an, auch in erneuerbare Energien zu investieren. Das ist vernünftig, weil jedes aufgestellte Windrad tatsächlich sofort hilft, Akws zu ersetzen. Atomkraft ist in Frankreich mit Nationalstolz und Souveränität verbunden, dezentrale Technologien sind eher lästig. Und so verspricht der Präsident 100 Millionen Euro für die Atomkraft jedes Jahr bis 2030 (auch um Altanlagen nachzurüsten), arbeitet am Plan B für Frankreichs „mode de vie“ und belässt es beim beschlossenen Ausstiegsplan: Frankreich hat sich verpflichtet, den Atomstromanteil bis 2035 auf 50 Prozent zu reduzieren und durch erneuerbare Energien zu ersetzen.

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