Land unter in Kiribati

Klimagipfel Ist das Zwei-Grad-Limit noch zu schaffen? Besonders betroffene Länder wollen das Ziel sogar verschärfen. Die Erderwärmung könnte sonst ihre Existenz zerstören
Ausgabe 49/2015
Und das ist noch gar nichts
Und das ist noch gar nichts

Foto: Mark Wilson/Getty Images

Mit der globalen Durchschnittstemperatur verhält es sich wie mit der Körpertemperatur des Menschen: Zwei Grad markieren den Unterschied zwischen Alltag und Lebensgefahr. Steigt die globale Oberflächentemperatur im Durchschnitt um mehr als zwei Grad, nimmt nicht nur Extremwetter wie Dürren oder Überflutungen zu. Es können auch sogenannte Kipp-Elemente ausgelöst werden, die die Erderwärmung beschleunigen oder gar verselbstständigen.

In Paris verhandeln derzeit Politiker und Diplomaten aus aller Welt über die Zukunft des Erdklimas. Die globalen Treibhausgasemissionen müssen zurückgefahren werden, aber wer muss wie viel dazu beitragen? Ökonomen haben zwar längst errechnet, dass sich Klimaschutz unterm Strich für die Weltwirtschaft rechnet, aber einzelne Staaten fürchten Nachteile für ihre Industrien, wenn sie sich zu Emissionsminderungen verpflichten. Deswegen sind die bisherigen Vorschläge noch weit entfernt vom Zwei-Grad-Ziel. Bleibt es dabei, wird das fatale Folgen haben.

Wenn das Chaos beginnt

Die Wissenschaft hat mehr als ein Dutzend möglicher Kipp-Elemente identifiziert. Die Permafrostböden sind dafür ein Beispiel. Unter der dauergefrorenen Erde Sibiriens, Nordkanadas und Alaskas sind gigantische Mengen an Kohlenstoff eingesperrt. Taut der Boden auf, wird dieser Kohlenstoff zu einer Treibhausgasfracht aus Methan und Kohlendioxid, die vom Menschen nicht aufzuhalten ist. Einmal in die Luft entwichen, reichern sich die Wärmeblocker in der Atmosphäre an und treiben die Oberflächentemperatur des Planeten immer weiter nach oben. Methan trägt über einen Zeitraum von 100 Jahren sogar 21 Mal stärker zur Erderwärmung bei als Kohlendioxid. Würde der Mensch erst dann mit dem Klimaschutz beginnen – es wäre nutzlos. Der Prozess ist unumkehrbar und viel stärker als der menschliche Einfluss auf die Atmosphäre.

Ein zweites Kipp-Element ist am Nordpol zu befürchten. Wenn das dort schwimmende Eis schmilzt, kann die unbedeckte Wasseroberfläche die Sonnenstrahlung kaum noch reflektieren, das dunkle Meerwasser „schluckt“ die Energie, speichert sie und beschleunigt so die globale Erwärmung. Jenseits von zwei Grad dürfte auch der Amazonas-Regenwald, einer der größten Kohlendioxidspeicher der Welt, schwer geschädigt werden. Das im Holz gebundene Treibhausgas wird dann frei und reichert die Konzentration in der Atmosphäre weiter an. Und weil das Klimasystem der Erde geprägt ist durch viele sich gegenseitig beeinflussende Prozesse, beginnt jenseits von zwei Grad das Chaos.

„Natürlich kommt es nicht bei 2,01 Grad zum Weltuntergang, schon gar nicht schlagartig“, sagt der Physiker Hans Joachim Schellnhuber vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Schellnhuber gilt als „Erfinder“ des Zwei-Grad-Ziels. Von der Politik beschlossen wurde es im Jahr 2010 auf der Klimakonferenz in Mexiko. Es sei wichtig gewesen, „überhaupt eine quantitative Orientierung ins Spiel zu bringen, an der sich vorher die Klimarahmenkonvention 1992 noch elegant vorbeigemogelt hat“, sagt der Wissenschaftler. Die Politik habe gern klare Vorgaben, und eine einfache Zahl sei besser zu handhaben als ein komplexer Temperaturkorridor, sagt Schellnhuber.

Es gibt jedoch auch Kritiker: Zum einen sind da Menschen wie Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Der Politikberater hält das Zwei-Grad-Ziel für unrealistisch und plädiert dafür, jedes Zehntelgrad an Temperatursteigerung zu verhindern, egal wie warm es bereits ist. Zum anderen sind da Menschen wie Andreas Fischlin. Der Schweizer Professor für Systemökologie hat seit Anfang der 90er Jahre beim Weltklimarat IPCC am vierten Sachstandsbericht mitgearbeitet und sich dann als Mitglied der Schweizer Regierungsdelegation selbst mit in die Verhandlungen eingeschaltet. „Wir verstehen das Klimasystem keineswegs bis in jede Einzelheit, es verbleiben Unsicherheiten, zum Beispiel bei den Rückkopplungen in der Vegetation“, sagt Fischlin. Deshalb sei die Wissenschaft eben nur zu 67 Prozent sicher, dass das atmosphärische Wettersystem eine Erwärmung um zwei Grad verträgt. Andersherum bedeute dies, es bleibe mit der Zwei-Grad-Politik ein Risiko von 33 Prozent. Fischlin vergleicht das mit einem Bungee-Springer: Würde der sich in die Tiefe stürzen, wenn die Gefahr, das Leben dabei zu verlieren, bei einem Drittel liegt?

Auf der Klimakonferenz in Paris wollen daher auch Länder wie Bangladesch, Kenia oder die Philippinen nicht über das Zwei-Grad-Ziel verhandeln. „Wir brauchen 1,5 Grad als Obergrenze der Erderwärmung zum Überleben“, sagt Joyceline Goco, Mitglied der philippinischen Regierungsdelegation. „Bereits heute sind wir enorm betroffen von den steigenden Fluten.“ Der Präsident des Inselstaates Kiribati, Anote Tong, sagt: „Zwei Grad Erderwärmung bedeuten, dass wir unter Wasser stehen. Der höchste Punkt unserer Insel Tarawa erreicht beispielsweise kaum drei Meter. In Kombination mit dem Meeresspiegelanstieg könnte eine einzige Flutwelle den Lebensraum vernichten.“

Alle müssen zustimmen

Die betroffenen Länder haben sich deshalb vor der Klimakonferenz in Paris zu einer neuen Verhandlungsgruppe zusammengeschlossen – zur V20. Das V steht für „verwundbar“ und 20 für die Zahl der Länder. Mittlerweile sind der Gruppe jedoch viel mehr Staaten beigetreten. Sie wollen nur einen neuen Weltklimavertrag akzeptieren, der die Erderwärmung auf 1,5 Grad begrenzt. Das zu akzeptieren, dazu sind die Industriestaaten jedoch nicht bereit. Andererseits kommt ein neues Abkommen nur zustande, wenn alle Staaten zustimmen. Insofern hat die V20-Gruppe durchaus Gewicht auf dem Verhandlungsparkett.

US-Präsident Barack Obama hat sich in dieser Woche auf dem Klimagipfel mit der Allianz der kleinen Inselstaaten getroffen. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte in ihrer Rede zu Beginn, die Erderwärmung solle „auf unter zwei Grad“ begrenzt werden. Freilich ohne die 1,5 Grad in den Mund zu nehmen.

Die Realität sieht derzeit jedoch ernüchternd aus. Der britische meteorologische Dienst Met Office hat im November gemessen, dass die globale Oberflächentemperatur inzwischen bereits um ein Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit gestiegen ist. Und Jahr für Jahr steigt die Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre. Wenn es so weitergeht, ist es irgendwann zu spät für die Umkehr.

Nick Reimer ist Chefredakteur des Online-Magazins klimaretter.info

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