Es war im Jahr 2009, als der deutsche Energiekonzern RWE einen sympathischen Riesen ins Kino und in die Werbeblöcke des vorabendlichen Fernsehens schickte: In einem 154-sekündigen Comic-Filmchen tapste dieser durch die Landschaft, um Windräder aufzustellen, Wasserkraftwerke anzuschließen und grünen Rasen auszurollen. „Es kann so leicht sein, Großes zu bewegen, wenn man ein Riese ist“, heißt es am Ende des Filmes. Dann wird der Slogan „vorweg gehen“ eingeblendet, wobei die konzerneigene Schreibweise so ging: „voRWEg gehen“. Der damalige Konzernchef Jürgen Großmann erklärte: „VoRWEg gehen bedeutet für uns, deutlich zu machen, welchen Beitrag RWE zur Minderung der weltweiten CO₂-Emissionen l
Vermeintlich „klimaneutrale“ Produkte: EU will Greenwashing verbieten
Klimabetrug Viele Unternehmen labeln ihre Produkte als „klimaneutral“ – und lügen dabei. Die EU will diese Praxis nun verbieten

Illustration: Natalia Alicja Dziwisch für der Freitag
VoRWEg gehen bedeutet für uns, deutlich zu machen, welchen Beitrag RWE zur Minderung der weltweiten CO₂-Emissionen leisten kann.“ Allerdings war der Energieriese RWE damals noch Europas größter Treibhausgasemittent.Die Praxis, mit grünen Werbeaussagen umweltfreundlicher auszusehen, als ein Produkt oder ein Konzern tatsächlich ist, nennt sich „Greenwashing“. Zu Deutsch: „Grünfärberei“. RWE war damals kein Einzelfall. Auch heute gibt es wohl kein Unternehmen, das derzeit nicht darüber nachdenkt, wie es auf den grünen Hype aufspringen kann.„Wir tun viel für möglichst wenig CO₂-Emissionen“, lautete ein Slogan der Lufthansa – ohne zu belegen, dass der Flugkonzern tatsächlich etwas Substanzielles für den Klimaschutz tut. Toyota bewarb seine Luxusmarke Lexus mit dem Spruch „Grün vor Neid“, obwohl der Spritverbrauch auf der Autobahn mehr als 23 Liter pro 100 Kilometer betrug. Das Verpackungsunternehmen Tetra Pak machte mit seinen Getränkekartons „Werbung für die Umwelt“, dabei weisen unter allen Getränkeverpackungen nur die Einwegflaschen aus Plastik eine noch schlechtere CO₂-Bilanz auf. „Damals waren solche Slogans noch relativ leicht zu entschlüsseln“, urteilt der Journalist Toralf Staud, der 2009 das Buch Grün, grün, grün ist alles, was wir kaufen veröffentlichte. Er bezeichnet diese frühe Phase als „den schönen Schein“.Die Dürrejahre als BoosterDann aber wurde das Greenwashing raffinierter. In den 2010er Jahren bewarben Konzerne Aktivitäten, die für sich genommen tatsächlich einen Fortschritt für die Umwelt mit sich bringen – ohne allerdings jene klimaschädlichen Geschäftsbereiche umzukrempeln, die den Hauptumsatz erwirtschaften. McDonald’s brachte den „Bioburger“ auf den Markt, die Deutsche Post schickte Elektroautos auf die Straße, der Stromkonzern EnBW bewarb seinen „Windkraftprotz“. Tatsächlich aber blieb McDonald’s einer der weltgrößten Verpackungsmüllverursacher, die Deutsche Post tankte Strom, der gar nicht aus erneuerbaren Quellen stammte, EnBW warb mit einem kleinen Windpark und verschwieg, dass der Konzern gleichzeitig eines der größten neuen Kohlekraftwerke in Betrieb nahm.„Ich finde es besonders dreist, wenn Konzerne die Verbraucher auffordern, Verantwortung zu übernehmen“, sagt Werner Boote. Der Regisseur, der 2018 den Dokumentarfilm Die Grüne Lüge in die Kinos brachte, kommt noch mit einem Beispiel um die Ecke: „Klimaneutrale Wurst? Wie soll denn der Verbraucher überprüfen, ob das Produkt, das als solches gelabelt ist, wirklich klimaneutral hergestellt wurde?“ Fälle von Greenwashing seien in den vergangenen Jahren deutlich mehr geworden, so der Österreicher.Aber woran liegt das? Die Dürrejahre hätten den Leuten vor Augen geführt, dass der Klimawandel in vollem Gange ist. „Das Thema ist in der Mehrheitsgesellschaft angekommen“, so Boote, „also geben sich die Konzerne auch mehr Mühe, sich in einem grünen Licht darzustellen“. Weil Veränderungen immer erst einmal das althergebrachte, erfolgreiche Geschäftsmodell infrage stellen, versuche es die Industrie zunächst mit der Lüge statt mit wirklichen Veränderungen. „Die Plastikindustrie erklärt uns beispielsweise, ihr könnt das Sackerl ruhigen Gewissens nehmen, wir recyceln das für euch.“ Tatsächlich aber würden nur acht Prozent des Plastiks wiederverwertet, zwölf Prozent werden verbrannt – und 80 Prozent landen auf Deponien oder in der Umwelt. „Würde die Politik die Hersteller zum 100-prozentigen-Recycling zwingen, wäre deren Geschäftsmodell kaputt“, urteilt Boote.„Wir beobachten tatsächlich eine viel stärkere Nachfrage nach nachhaltigen Produkten“, sagt auch Simon Mütze, der Greenwashing und „Corporate Social Responsibility“ an der Leibniz-Universität Hannover untersucht hat. „Unternehmen sind heute in Mitteleuropa geradezu gezwungen, umweltfreundliche Produkte auf den Markt zu bringen, einfach weil die Kundschaft solche nachfragt.“ Allerdings sei das Umweltwissen bei vielen Konsumenten noch niedrig, weshalb die Konzerne oft mit dem Greenwashing durchkämen.Laut einer Studie der EU-Kommission aus dem Jahr 2020 waren mehr als 50 Prozent der Angaben über die Klimafreundlichkeit von Produkten trügerisch.Ausgeglichene HähnchenbrustRewe ist ein gutes Beispiel dafür: Der Lebensmittel-Supermarktkette verkaufte vergangenen Sommer klimaneutrales Hähnchenbrustfilet. „Das Label ‚klimaneutral‘ ist grundsätzlich irreführend, weil man nichts klimaneutral produzieren kann“, urteilt die Juristin Rauna Bindewald, die Greenwashing für die NGO Foodwatch aufzuspüren versucht. Grundlage der Rewe-Aussage war eine sogenannte Ausgleichsagentur, die Unternehmen anbietet, so viel Treibhausgase an anderer Stelle einsparen zu helfen, wie bei der Produktion ihrer Ware entstehen. „Greenwashing bei Klimaneutral-Aussagen nachzuweisen, ist sehr kompliziert, weil die Projekte komplex sind und man nicht alle Informationen bekommt“, sagt Juristin Bindewald. Bei Rewe wurden die eigenen Emissionen mit Zertifikaten aus einem Waldprojekt in Peru kompensiert, das eine Ausgleichsagentur namens Climatepartner vermittelte. In dem Projekt werden Eukalyptus-Monokulturen in industrieller Forstwirtschaft angebaut. Dabei wird das umstrittene Herbizid Glyphosat gespritzt. Ist das grün? Zudem ist fraglich, ob durch das Projekt tatsächlich zusätzliches Treibhausgas gebunden wird. Nach der Foodwatch-Recherche gab Rewe das Projekt auf.Gerade erst hat ein Rechercheteam von Zeit, Guardian und SourceMaterial, einem britischen Reporterpool, einenkrassen Fall von Greenwashing aufgedeckt:Der weltweit führende Zertifizierer von CO₂-Kompensationen, die US-amerikanische NGO Verra, hat sogar „Geister-Zertifikate“ ausgegeben. Große Unternehmen wie SAP, Bayer oder Disney haben in Waldschutzprojekte investiert, die nachweislich viel weniger CO₂ eingespart haben als von Verra versprochen.Auch Dietrich Brockhagen sagt: „Der Trend geht zum Kompensieren.“ Er ist Geschäftsführer bei der Ausgleichsagentur Atmosfair, die einen Leitfaden „Anforderungen und Grenzen der CO₂-Kompensation“ entwickelt hat. Dort wird eine Mindestbedingung definiert, die für eine Zusammenarbeit mit Atmosfair erfüllt sein muss. Und zwar: Es darf keine realistische Alternative geben, die weniger CO₂ verursachen würde. Zu Fleisch, Tomaten aus Spanien, Rosen aus Kenia oder einer Kreuzfahrt gibt es Alternativen, weshalb Atmosfair bei solchen Produkten nicht als Partner zur Verfügung steht. Für den Lkw-Umzug, das Verschicken eines Pakets oder den Interkontinentalflug fehlen solche Alternativen, weshalb Atmosfair die dabei entstandenen Emissionen an anderer Stelle wieder einspart. Zu diesem Zweck sucht die Agentur weltweit Potenziale, um Wohlstandsemissionen durch Entwicklungszusammenarbeit auszugleichen.In einem ersten Schritt sucht Atmosfair Projekte, deren Emissionen ersetzt werden können, beispielsweise die mit Diesel betriebenen Garküchen auf einem Pilgerweg in Indien. In Schritt zwei wird ermittelt, wie viel Diesel im Jahr von diesen Küchen verbrannt wird, also wie viel CO₂ dabei entsteht. In Schritt drei wird bestimmt, wie viel es kostet, die Garküchen auf leistungsfähige Sonnenkocher umzustellen. Daraus ergibt sich der Preis, der etwa für einen notwendigen Flug von Frankfurt/Main nach New York und zurück erhoben wird, um die entstandene Klimaschuld auszugleichen: Für die 2,9 Tonnen, die dabei entstehen, müssen aktuell 68 Euro gezahlt werden.Derlei Klimaschaden durch Aufforstung auszugleichen, lehnt Atmosfair ab. „Die ,Permanenz‘ ist das Problem“, sagt Geschäftsführer Brockhagen: Niemand könne garantieren, dass gepflanzte Bäume nicht abgeholzt oder durch Dürre und Schädlingsbefall vernichtet werden. Dadurch kann seine Firma weniger Kompensations-Potenzial anbieten. „Wir wachsen nicht so schnell wie andere Anbieter, haben aber einen guten Ruf.“Verführerisches FeuchttuchWie der Fall Verra zeigt, haben nicht alle Player auf dem Kompensationsmarkt so hohe Standards wie Atmosfair. Deswegen werden Stimmen lauter, die nach staatlichen Regelungen rufen. Zum Beispiel Foodwatch-Juristin Rauna Bindewald, die „endlich Gesetze gegen Greenwashing“ forderte. Solche Rufe wurden jetzt von der EU gehört, so scheint es: Die Kommission arbeitet an einem Entwurf gegen das Greenwashing. In der Präambel heißt es: „Verbrauchern fehlen verlässliche Informationen über die Nachhaltigkeit von Produkten, sie sind mit irreführenden Geschäftspraktiken konfrontiert wie Greenwashing oder der mangelnden Transparenz und Glaubwürdigkeit von Umweltkennzeichnungen.“Die einzelnen Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Angaben über die Nachhaltigkeit und Klimafreundlichkeit von Produkten oder Unternehmen auch ihre Berechtigung haben. Grundlage dieser Bewertung sollen internationale Nachhaltigkeitsstandards und wissenschaftliche Erkenntnisse werden, die Claims geprüft von unabhängigen Dritten. Noch wird an dem Entwurf gearbeitet, im März soll der Gesetzestext vorgestellt werden. Danach muss er noch vom EU-Parlament und den einzelnen Mitgliedstaaten bestätigt werden. Dann könnte diese Form von Verbrauchertäuschung aus der rechtlichen Grauzone verschwinden.Umfragen belegen, dass „klimaneutrale“ Produkte bei Verbrauchern hoch im Kurs stehen. Besonders beliebt: die „klimaneutrale“ Landmilch von Aldi, die „klimaneutralen“ Toilettenfeuchttücher von Rossmann oder die „klimaneutrale“ Outdoor-Ausrüstung von Vaude. Das Onlinemagazin Utopia hat erhoben: 71,9 Prozent der Befragten bringen der Kennzeichnung „klimaneutral“ Vertrauen entgegen; 20,7 Prozent werden misstrauisch, wenn sie diesen Stempel auf einem Produkt entdecken. Die Nachhaltigkeitsplattform hatte im März 2021 fast 4.000 ihrer Nutzer:innen befragt. Dabei gibt es keinen Grund für so viel Vertrauen: „Viele Hersteller werben mit irreführender Klimawerbung“, sagt Juristin Bindewald.Neuerdings wollen Unternehmen und Konzerne auch selbst klimaneutral werden: Eon, die Deutsche Post, BMW oder Ikea etwa haben sich „Klimapläne“ gegeben, bis Mitte des Jahrhunderts soll ihr Ausstoß bei Netto-Null liegen. „Teilweise sind die Pläne sehr vage, die Ziele unverständlich formuliert“, erläutert Frederic Hans vom NewClimate Institute, das die Klimaschutzpläne der 25 größten Konzerne untersuchte. „Die Deutsche Post zum Beispiel hatte Stand Februar 2022 überhaupt nicht spezifiziert, wie viel Treibhausgase sie bis 2050 selber reduzieren will.“ Stattdessen werde „Kompensieren“ großgeschrieben, 24 von 25 Unternehmen verlassen sich der Untersuchung zufolge auf Kompensationsgutschriften, auch solche von schlechter Qualität. „Damit verpflichten sich die Konzerne nicht zum Klimaschutz über alle Schritte ihrer Wertschöpfungskette hinweg, sondern suggerieren ihn nur“, sagt Hans. Vielleicht ist, sobald das geplante EU-Gesetz in Kraft getreten ist, damit endlich Schluss.