Wie beginnt heute ein Thriller? Vielleicht so: Ein Mann betritt die Lobby eines vornehmen Hotels in einem besseren Viertel Berlins. Ein vermeintlicher Concierge winkt ihn heran und drückt ihm einen Schlüssel in die Hand. Das dazugehörende Hotelzimmer ist leer. Auf dem Bett liegt ein iPhone. Als der Mann es einschaltet, fordert ihn eine App auf, das Gerät im Raum auszurichten. Als das iPhone auf die richtige Stelle gerichtet ist, beginnt es einen Film abzuspielen. Auf dem Display ist zu sehen, wie im selben Hotelzimmer ein junges Mädchen von zwei russischen Männern betäubt und davongetragen wird.
Das alles passiert wirklich – und ist doch nur Fiktion. Die Agentur Jung von Matt konzipierte den Plot des Real-Life-Games The Witness, das am vergangenen Wo
s am vergangenen Wochenende in Berlin gespielt wurde. Das Event gehörte zur Kampagne des neuen Pay-TV-Senders 13thStreet, der sich auf „Thrill Crime“ spezialisieren will. Motto: „Andere haben Zuschauer. Wir haben Augenzeugen“. Am Spiel teilnehmen konnte nur, wer sich rechtzeitig beworben hatte. Wer ausgelost wurde, erlebte eine neue Erzählform, die Realität und Inszenierung mithilfe von Smartphones auf ganz eigene Weise vermischte.Eine eigens für das Spiel entwickelte iPhone-App führt die Spieler automatisch durch den Plot. Am Telefon erfährt der Spieler, dass das junge Mädchen wichtige Dokumente besitze, die es zu sichern gelte. Vor der Tür des Hotels wartet ein Taxi. Die Fahrt führt zum Kottbusser Tor. Grimmige Typen begleiten den Spieler in einen Altbau-Aufgang.Ein wenig Paranoia inklusiveKnapp 20 Komparsen wurden für The Witness gecastet. Die trifft der Spieler im Lauf des Plots, ohne unbedingt zu merken, dass es sich um Komparsen handelt. Wenn jeder gewöhnliche Passant ein potenzieller Akteur ist, kann das unter den Spielern auch ein wenig Paranoia schüren. Ein Element, mit dem die Spieleentwickler bewusst spielen. Etwa wenn der Spieler in der U-Bahn quer durch Berlin fährt und nicht weiß, ob er dabei verfolgt wird. Oder wenn er in das Milieu des Kottbusser Tors geschickt wird.Dort steht er dann, wenn er den Hinweisen folgt, vor einer Wohnung im dritten Stock eines Mietshauses. Das Handy muss wieder ausgerichtet werden. Eine kurze Filmsequenz zeigt in einer Rückblende den Versuch des Computer-Nerds Phreak, die entwendeten Daten zu retten. Dann sieht man, wie Phreak von den Hotel-Russen gemeuchelt wird. Zwischen Kunstblut muss der Spieler nun die von Phreak eilig versteckten Dokumente suchen. Findet er sie, muss ein Schwarzweiß-Code mit dem Smartphone gescannt werden. Ein neues Video öffnet sich. Das entführte Mädchen spricht den Spieler direkt an: Er dürfe niemandem trauen, er müsse unbedingt die U-Bahn nehmen und die Dokumente zu Alexey bringen. Das Telefon klingelt. Die Dokumente müssten augenblicklich fortgeschafft werden, vor der Tür warte ein Taxi, das gehe schneller als mit der U-Bahn. Der Spieler steht vor der Wahl.Augmented Reality wird es genannt, wenn man die Möglichkeiten der physischen Welt durch die eines digitalen Geräts erweitert. Neben der „echten“ Welt werden zusätzliche Informationen eingeblendet. Ein bekanntes Beispiel ist etwa die Smartphone App Around Me, mittels der ein User in Echtzeit Informationen zu Dienstleistern in seiner Umgebung eingeblendet bekommt.Akteur statt ZuschauerNeu an The Witness ist die Konsequenz, mit der die einzelnen technischen Möglichkeiten kombiniert werden. Die von den Spielern genutzte iPhone-App bedient sich eines ganzen Arsenals: Kompass, GPS, Video-Sequenzen, QR-Code. Das ermöglicht neue Erzählformen, mit deren Hilfe der Zuschauer selbst zum Akteur wird. Durch seine Teilnahme erlebt er die Konflikte eindringlicher. Und mit seinen Entscheidungen bestimmt er aktiv den Verlauf der Handlung.Das geschieht in The Witness etwa mit der Wahl: U-Bahn oder Taxi? Wer sich für das Taxi entscheidet, wird in ein Parkhaus gebracht. Auf dem Display des Handys kann man mit ansehen, wie ein Mann im Trainingsanzug eine Waffe zieht, zielt und abdrückt. Der Spieler hat die falsche Entscheidung getroffen. Er ist tot, das Spiel vorzeitig beendet.Für ein derart komplexes Real-Life-Game mit über die ganze Stadt verteilten Spielorten und verschiedenen Handlungsvarianten bedarf es zweier Komponenten in ausreichendem Maße: Geld und Zeit. The Witness hatte eine Vorlaufzeit von neun Monaten. Bereits im Herbst wurden die Filmsequenzen an den Schauplätzen gedreht. Die Drehorte mussten gemietet, eingerichtet und dann wieder in den Urzustand versetzt werden. Anfang April wurden die Zimmer dann erneut entsprechend dem zuvor gefilmten Zustand eingerichtet. Außerdem musste die App entwickelt werden. Angesichts der immensen Kosten ist es kaum verwunderlich, dass ein solches Projekt daher erstmals im Rahmen einer großangelegten Werbekampagne realisiert wird.Wegen des Aufwands wird diese Form des Real-Life-Games wohl in absehbarer Zeit ein Nischenprodukt bleiben. Kleinere Initiativen, die mit ähnlich interaktiven Formen des Erzählens experimentieren, können diese nur begrenzt umsetzen. Das Hildesheimer Theaterkollektiv Machina ex überträgt etwa Point’n’Click-Adventures in die Realität. Eines ihrer Stück fand in einer ehemaligen Kaserne statt.Übrigens – wer sich bei The Witness für die U-Bahn entscheidet, gelangt wirklich zu Alexey. Der steht hinter dem Tresen einer Bar in Berlin-Mitte und bringt den Spieler auf die Spur des entführten Mädchens. In den Lagerhallen einer ehemaligen Brauerei sind zwei Dobermänner angekettet. Der Spieler muss an ihnen vorbei in einen Keller steigen. Der ist jedoch leer. Ein letztes Mal wird das iPhone ausgerichtet. In einem Video fordert ein älterer Herr die Dokumente. Gibt der Spieler ihm diese nicht, wird er „erschossen“. Gibt er sie ihm, wird er verschont. Mit einem Lächeln teilt der ältere Herr dann mit, dass Nadja bereits tot sei. Es gibt kein Happy End.