Radioaktivität ist kein Thema

Fotografie Andrej Krementschouk hat in der Sperrzone von Tschernobyl fotografiert. Zum 25. Jahrestag der Katastrophe stellt die Heinrich Böll Stiftung seine Bilder aus. Ein Gespräch

Der Freitag: Herr Krementschouk, Sie reisten knapp ein dutzend Mal in die Stadt Prypjat, in die Sperrzone von Tschernobyl. Wie reagierten die Einwohner auf ihre Versuche deren Leben zu dokumentieren?

Andrej Krementschouk: Am Anfang war ich sehr zurückhaltend. Ich hatte im Vorfeld gehört, dass die Menschen dort sehr eigen und zurückhaltend sein sollen. Mir gegenüber waren sie stets freundlich und offen. Im vergangenen Jahr lebte ich sogar einige Tage mit ihnen in der Sperrzone.

Sprachen Sie mit den Menschen über die Tschernobyl Katastrophe?

Nein. Mit diesem Thema sollte man ihnen nicht mehr kommen. Vor 25 Jahren entschlossen sie sich dort zu bleiben. Sie kümmern sich um ihr Vieh und ihr Land. Für sie ist die Reparatur ihres Hofs wichtiger als Radioaktivität oder die gesundheitlichen Folgen der Katastrophe. Für die Einwohner der Sperrzone wich die Hektik relativ schnell der Normalität. Heute kann man die atomare Gefahr nicht mehr fotografieren. Viele Menschen waren enttäuscht, dass in meiner Arbeit keine missgebildeten Tiere oder Menschen mit fünf Beinen oder zwei Köpfen zu sehen sind. Das sind Ängste und Vorurteile, die mit der Realität vor Ort nichts zu tun haben. Meine Arbeit sollte nichts anderes zeigen, als die Lebensrealität der Menschen dort.

Was fasziniert Sie daran?

In meiner Arbeit beschäftige ich mich seit langem mit dem Thema Heimat. Das Sperrgebiet von Tschernobyl ist eine Heimat, die den Menschen genommen wurde. Viele wurden aus ihren Lebensräumen getrieben. Der Staat schaltete ihnen einfach den Strom ab.

Eine Sicherheitsmaßnahme.

Der Staat hatte Sorge um die Gesundheit der Menschen und wollte deren Leben in der Sperrzone unmöglich machen. Die Menschen leben aber lieber dort, als einem anderen Ort, der ihnen völlig fremd ist. Dass sie dann vielleicht drei Jahre weniger leben, nehmen sie in Kauf. Inzwischen hat der Staat das erkannt. Die Menschen haben wieder Strom.

Slawische Kulturen haben einen besonderen Blick auf die Natur. Herrscht unter den Einwohnern der Sperrzone eine starke Mythologisierung?

Für viele Menschen gibt es einen starken Bezug zwischen Heimat und ihren Träumen. Ich habe dort eine Frau getroffen, die träumte, sie würde in der Nähe einer großen Eiche wohnen und Menschen heilen. Sie ist dann quer durch Weißrussland gereist. Irgendwann war sie mitten im Sperrgebiet und sah diese Eiche. Sie zog in ein verlassenes Haus in der Nähe und lebt dort nun bereits seit sieben Jahren. Sie heilt Menschen mit ihren Händen. Ich habe vieler solcher Geschichten gehört und hoffe sie in meinem zweiten Buch über Tschernobyl veröffentlichen zu können.

Ist ihre Arbeit über die Region Tschernobyl damit beendet?

Es ist noch eine sehr stille und subtile Arbeit angedacht, in der es ausschließlich um Landschaften geht. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Pflanzenwelt, die mit der Radioaktivität nur in einem sehr abstrakten Zusammenhang steht. Bisher habe ich sechs oder sieben sehr gute Bilder. Es fehlt noch Material, um daraus eine komplexe Arbeit zu machen. Aber ich habe mit meiner Arbeit bisher mehr als zwei Jahre verbracht und mich der Gefahr, die ein Aufenthalt in der Sperrzone mitbringt, ausgesetzt. Ich weiß noch nicht, ob ich diese Pläne wirklich umsetzen werden.

Die Ausstellung Straße der Enthusiasten ist als Nächstes in den Städten Brüssel, Warschau, Kiew, Gartow und Freiburg zu sehen. Der Freitag ist Medienpartner dieser Ausstellung

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Geschrieben von

Nico Schmidt

Freier Journalist

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