Genau 27.799 Kilometer – diese Strecke legte Heinrich von Kleist zurück, bevor er 34-jährig und gemeinsam mit Henriette Vogel in den Freitod ging. Eine kuriose Zahl. Errechnet hat sie eine Gruppe Frankfurter Gesamtschüler im Rahmen der Dokumentation 27.799 km per PS über den Kleist’schen Lebensweg, die nun als Teil der Kleist-WG zu sehen ist – einer von vielen Ausstellungen im Kleist-Jahr 2011, deren gemeinsames Problem lautet: Wie macht man diesen Autor, von dem nur ein einziges authentisches Gemälde erhalten ist, sichtbar?
Schon an dem 1801 von Peter Friedel gefertigten Porträt Kleists scheiden sich die Geister. Günter Blamberger, Vorsitzender der Kleist-Gesellschaft, nennt die Tatsache, dass das Porträt einen „Kindskopf“ zeige, ein Ärgernis. Seine im Februar vorgelegte Kleist-Biografie ziert dennoch eine Variation der Friedel-Miniatur – und folgt damit der Tradition: Vier von fünf seit 2007 erschienenen Kleist-Biografien zeigen auf dem Deckel das Motiv von Friedel.
Dass Kleist bis heute körperlich kaum fassbar erscheint, rührt auch von der steten Neuerfindung seiner selbst her. Militär, Wissenschaftler, Bürger, Journalist oder mit dem Ziel, wie er in einem auf den 10. Oktober 1801 datierten Brief schreibt, sich „etwa in der Schweiz einen Bauerhof zu kaufen, der mich ernähren kann, wenn ich selbst arbeite.“ Es dauert kein Jahr, bis Kleist das schweizerische Thun verlässt und gen Deutschland reist. Mit der Widersprüchlichkeit seiner Biografie und fortwährenden Selbstinszenierung war Kleist postmodern in einer Zeit, als die Moderne in Literatur und Kultur erst einsetzte.
Sehr kleiner Objektbestand
Der nomadische Lebenswandel Kleists erschwert den Zugang zu seiner Person zusätzlich. Anders als bei Thomas Mann oder Goethe, deren Werke sich in Geburts- und Arbeitshäusern, Nachlassbibliotheken und im Fall Manns sogar in vollständig erhaltenen Kleiderschränken manifestieren, existiert von Kleist kein materieller Nachlass. Wo einst sein Frankfurter Geburtshaus stand, ist nun ein Sechziger-Jahre-Reihenbau zu bewundern. Die Anzahl der Devotionalien ist überschaubar. „Ein sehr kleiner Objektbestand“, sagt Wolfgang De Bruyn, Direktor des 200 Meter vom Geburtsort entfernten Kleist-Museums, über die eigene Sammlung.
Die Schwierigkeit, Kleist als Person erfahrbar zu machen, zeigte sich schon im 19. Jahrhundert. Wer Kleists Werk ausstellen wollte, engagierte Künstler, die Bildnisse des Schriftstellers produzierten. Zum 100. Todestag im Jahr 1911 existiert bereits ein großer Fundus an künstlerischen Porträts. Für viele war der Jahrestag schon damals Auftakt zu einer intensiven Beschäftigung mit Kleist. „Lorbeerkränze wurden gewunden. In Berlin, München und Hamburg erschienen Sonderausgaben“, schreibt Blamberger in seiner Biografie.
Blamberger und Wolfgang De Bruyn haben die diesjährigen Festivitäten initiiert. Konfrontiert mit der Problematik eines immateriellen Schriftstellers, suchten sie die Hilfe Stefan Iglhauts. Der Kulturmanager entwarf ein szenografisches Konzept, das auf Bildnisse Kleists nahezu gänzlich verzichtet. Krise und Experiment ist der Titel der Doppelausstellung in Berlin und Frankfurt/Oder, die, einer Idee Blambergers folgend, in 25 Diskurselemente geteilt ist. Jeder Raum ist ein Experiment.
Faksimiles auf Metallschnüren
Im Berliner Teil, der im Ephraim-Palais zu sehen ist, haben die Räume Überschriften wie „Männerliebe – Männerfreundschaft“, „Der Kindersoldat – Traumata und Träume“ oder „Fantastische Ideen, futuristische Projekte“. Iglhaut, der „bestimmte Stoffe mit Zitaten aus der heutigen Medienwelt aktualisieren“ will, wählte die Exponate aus. Hinter einer Kinderausrüstung des späten 18. Jahrhunderts flackern auf einem Röhrenfernseher Bilder afrikanischer Kindersoldaten. In einem anderen Raum illustriert ein Urlaubsvideo zweier Männer Kleists Homosexualität.
Das assoziative Spiel mit dem Schaffen des Schriftstellers mag für die Erschließung des Werks hilfreich sein, gleichzeitig trägt es seltsame Blüten. Da ist etwa die Corporate Identity des Kleist-Jahres, eine blau-weiße Wortmarke, die „die biografischen Brüche und das Nomadentum im Leben Heinrich von Kleists“ darstellt. Hier stößt der Versuch einer Abbildung ohne Bild an seine Grenzen. Auch ein überdimensionaler Mensch, bestehend aus Faksimiles, gespannt auf Metallschnüre, lässt den Betrachter ratlos zurück.
Jene Arbeit, die den Schriftsteller am besten greifbar macht, steht eben nicht im Ephraim-Palais, sondern in der Frankfurter Kleist-WG. In die Mitte ihrer Installation schreibgeschützt haben Zehntklässler Kleists Kopf auf einen Tisch mit vier Stühlen gestellt. In den Ecken des Raums ragen die Büsten Goethes und Wielands empor. Während Goethe über den jungen Schriftsteller, den er des Schreibens unfähig nannte, hinwegblickt, trifft Wielands Sichtachse die des jungen Autors.
Krise und Experiment Ephraim-Palais im Stadtmuseum Berlin und Kleist-Museum Frankfurt/Oder. Bis 29. Januar 2012, Katalog 40 (ab Juni erhältlich)
Kleist-WG Große Oderstraße 26/27, Frankfurt/Oder. Bis 21. November 2011, Katalog 10
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.