Nia konnte sich nie mit einer der beiden gesellschaftlichen Gender-Vorgaben identifizieren. Als Kind versuchte sie, die Regeln zu befolgen, trug die Schuluniform, „wie es jeder gute Junge tun muss“. Sie empfand sie als einschränkend. Zu steif. Zu ernst. Zu männlich. „Ich habe nie gern bei den Jungs gesessen. Sie haben mich immer ausgelacht“, sagt sie. Dazu kam die Missbilligung der Lehrer*innen: „Der Ruf zur Ordnung war immer der gleiche, wie ein Mantra: „Sei ein Mann!“ Zwei Jahre lang versuchte Nia, ein Mann zu sein. „Zwei Jahre der kompletten Unterdrückung“, beschreibt sie diese Zeit. Und dann die Angleichung: Brustoperation, Gesichtsverschönerung, längere Haare. Ihre Familie reagierte mit Ablehnung. Die Gesellschaft drängte sie an den Rand: „Die Leute starren dich an, bedrohen dich, ziehen an deinen Haaren, schlagen dich.“ Sie blickt nach unten, knöpft den Ärmelbund ihrer Bluse auf. „Ich habe immer noch Narben am Arm.“ Am rechten. „Für diese Leute bist du gesellschaftlicher Abfall, eine Laune der Natur, eine Missgeburt.“
Im Sumpf sakraler Verbote
Für Shinta Ratri ist Nia nichts dergleichen. Die 57-jährige Transgender-Aktivistin gründete 2008 Pondok Pesantren Waria al-Fatah, das einzige islamische Internat für Transgender auf der Welt. Heute befindet sich die Schule in einem traditionellen Holzgebäude in einem ruhigen Viertel von Yogyakarta, einer kleinen Stadt auf der indonesischen Insel Java. „Wir brauchten einen sicheren Ort, wo trans Frauen beten können, denn der Islam ist ein Segen für alle“, sagt Shinta. Keine Vorurteile, keine Heuchelei, keine Diskriminierung. „Hier akzeptieren mich alle als das, was ich bin“, sagt Nia. „Ich kann endlich meine wahre Identität zeigen: die einer Waria.“
Waria bedeutet Transgender, zusammengezogen aus „Wanita“ (Frau) und „Pria“ (Mann). Das Konzept ist nicht neu in der javanischen Kultur, auch wenn viele in Yogyakarta nicht mehr zu wissen scheinen, dass es dort geschminkte Männer, Kostüme und Tänze schon vor der Ankunft des Islam gab. In Indonesien, der größten Nation mit muslimischer Mehrheit, betrachten die meisten der 210 Millionen Einwohner die Transgender-Community als Abweichung. Tabuisierung und die Härte der Verurteilung verschärfen die Intoleranz. Anfang der 2000er Jahre erlaubte Indonesien der Regionalregierung von Sumatra, in der Provinz Aceh im Norden der Insel die Scharia einzuführen. Homosexuell, bisexuell oder trans zu sein bedeutet dort Haft und Auspeitschen in der Öffentlichkeit. 2015 beschloss der indonesische Rat der Ulama (islamische Religionsgelehrte) eine Fatwa gegen die LGBT-Community und definierte sie als „Affront gegen die Würde Indonesiens“. 2016 bezeichnete Indonesiens Verteidigungsminister Ryamizard Ryacudu die LGBT-Bewegung als „moderne Kriegsform mit dem Ziel, die Glaubwürdigkeit des Landes zu unterhöhlen“. Unterdessen stufte die Indonesische Psychiatrische Gesellschaft Transgender als „Menschen mit einer geistigen Störung“ ein. In diesen Jahren wurde die Debatte im Land immer heftiger. Die Vorurteile der Mächtigen spiegeln sich in der Unversöhnlichkeit der Bevölkerung: 87 Prozent der Indonesier*innen hielten bei einer aktuellen Umfrage von Saiful Mujani Research and Consulting die LGBT-Community für „eine Bedrohung des öffentlichen oder privaten Lebens“.
Inmitten des Sumpfs sakraler Verbote ist die Transgender-Madrasa ein Statement. Die Schule ist ein Weg, Waria vom Rand ins Zentrum des Islams zu bringen, indem sie einen sicheren Hafen für den Gottesdienst bietet. In diesem geschützten Raum sind die rund 40 Mitglieder der LGBT-Community stärker zusammengewachsen denn je. „Es ist nicht nur eine Schule, sondern eine Familie“, sagt Nia. Hier hat sie gelernt, dass Sicherheit Tag für Tag gewährleistet sein kann und „der Islam, der richtige, nicht verurteilt“. Ihr sei nun klar, dass es nicht wichtig ist, ob die Gesellschaft Mitglieder der LGBT-Community als Sünder darstellt. Und sie fühlt sich im Recht, weil sie „Teil von Allahs Geschöpfen ist“. Mit 25 fürchtet sich Nia nicht mehr. „Was wissen islamistische Fundamentalisten davon, was es bedeutet, Waria zu sein? Wer gibt ihnen das Recht, zu verdammen?“
Hier „wird ein moderater religiöser Ansatz verfolgt, nicht der starre der Fundamentalisten“, erklärt Mashuriyah Sa’dan, die einzige Lehrerin der Schule, die auch an der renommierten Gadjah- Mada-Universität in Yogyakarta lehrt. „Das pädagogische Konzept der Schule legt Wert auf die individuelle moralische Verantwortung und die persönliche Interpretation von Koran und Hadith, nicht gefiltert durch die Ulama, die Religionsexperten.“ Die Schule will eine alternative Botschaft vermitteln: Allah achtet jeden Menschen. „Es ist egal, wer du bist, woher du kommst, was dein Hintergrund ist“, sagt Sa’dan, die Schüler*innen ermutigt, sich Fragen zu ihrer Sexualität zu stellen und wie Transgender-Sein sich auf ihr Verhältnis zu Gott auswirken kann.
Für den Imam ist sie ein Mann
Renata ist noch schläfrig, als am frühen Montagmorgen der Ruf zum Gebet über die Dächer schallt. Rere – wie alle sie nennen – sitzt in ihrem Zimmer im Schneidersitz auf dem Bett. Ihre Augen sind auf den Spiegel fixiert und betrachten intensiv ihren Körper. Die kurzen Haare, der Adamsapfel stehen im Gegensatz zum Wunsch nach Weiblichkeit. Es ist alles schon da, auf dem Bett aufgehäuft, zwischen Kleidern, Lippenstiften und Bürsten. Es ist alles da, in den roten Lippen, den langen gebogenen Wimpern, in der Vorsicht, mit der sie ihre Perücke trägt, einen braunen Bob, am Tag zuvor gekauft. Und in den Worten, die ihre Freude begleiten, sich als Frau zu sehen: „Da bin ich“, sagt sie mit einem Lächeln: „Renata!“ Die 21-Jährige wusste das früh. Sie spielte mit Puppen, mochte Röcke und Ketten. „Beim Spielen mit anderen Kindern habe ich mich nie wohlgefühlt.“ Was in der Kindheit noch toleriert wurde, hörte mit der Jugend auf. Dann kommt die Zeit der Schuluniform, weißes Hemd, blaugraue Hosen. Spott und Hohn. Pflicht und Missverständnisse. Es waren viele Nachmittage auf der Suche nach ihrem Ich nötig, stundenlanges Kleideranprobieren, Make-up-Auflegen. Sie versuchte und versuchte es erneut. Zeit des Ichs. Geheim. Intim. Privat. Jahre der Beleidigungen, Drohungen und Verletzlichkeit. „Ich hasste mein physisches Aussehen, ich fühlte mich falsch, manchmal krank. Wieso war meine Seele, die einer Frau gehörte, in einem männlichen Körper gefangen?“ Schwierig war auch die Absicht, fromm zu sein, die Konfrontation mit dem Glauben. „Ich konnte nie eine Moschee betreten, schon gar nicht so angezogen“, sagt sie und zeigt auf die Muneka, das religiöse Gewand, das sie stolz trägt, „denn für jeden Imam bin ich keine echte Frau“.
Auch wenn Transgender und Homosexualität in Indonesien nicht illegal sind, gibt es keinen gesetzlichen Schutz vor Diskriminierung. Für Konservative ist die Anti-LGBT-Rhetorik ein verbindendes Element. Für Rere ist Beten von enormer Bedeutung: „Meine Religion, der Islam, ist sehr wichtig für mich, aber trans zu sein ist keine Wahl, es ist ein Schicksal.“ Doch das verstünden die Leute nicht: „Sie beobachten dich, verurteilen dich, stecken dich in ein Ghetto.“ Und dann ist da die Angst vor dem Urteil der Familie, die Unaussprechlichkeit, die Feindseligkeit. „Meine Mutter hat mich vor drei Jahren rausgeschmissen“, erzählt sie mit brüchiger Stimme: „Sie hat mich nicht akzeptiert. Sie wollte mich nicht mehr.“ Damals war Rere gerade 18 geworden. Mit dem zwei Jahre jüngeren Bruder spricht sie nicht mehr. Die Erwähnung des Vaters ist tabu. Seitdem lebt sie in einem kleinen Nebengebäude mit Blick auf den Hof von Shintas Schule, die sie bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung kennenlernte. „Ich hatte ein bisschen Angst, auf sie zuzugehen, aber sie hat mich sofort verstanden“, erzählt sie. „Sie drückte mich, unterstützte mich und begrüßte mich sofort wie eine Tochter.“ Shinta ist für sie wie eine Mutter, die sie lehrte, ihre eigene Identität zu behaupten. Die ihr half, Blockaden und Hemmungen zu überwinden.
In der Schule teilt man Bücher, Hausaufgabenzeit, Gebete und das gleiche Leben. Vielleicht noch etwas unausgereift, aber zweifellos ohne Einschränkung. „Ich bin eine fleißige Schülerin und eine gute Muslima. Egal ob Mädchen oder Junge, ich bin Teil dieses Landes und ich werde für meine Rechte kämpfen.“ Beharrlichkeit zeichnet Rere und die anderen aus. Das zeigte sich auch, als die Schule im Februar 2016 wegen Gewaltdrohungen vier Monate lang geschlossen werden musste. Konservative Gruppen, die an Bedeutung gewonnen haben, darunter auch eine lokale namens Front Jihad Islam (FJI), warfen dem Internat vor, die Regeln des Islams zu brechen. Durch die Unterstützung der Nachbarn und die Entschlossenheit der Waria konnte die Schule wieder eröffnet werden.
„Demokratie existiert“, jubelt Jessica, während sie mit hochhackigen Schuhen über das Kopfsteinpflaster stolpert. Es ist 22 Uhr. Es ist dunkel. Sie ist auf dem Weg zur Arbeit. Sie sagt von sich, sie sei „in einem männlichen Körper gefangen“. Betrachtet man ihre langen schwarzen Haare, das makellose Make-up, das goldene Kleid, sieht man eine Frau. Es zu akzeptieren, war dennoch schwierig und hat gedauert. Die Frage „Warum ich?“ klang ihr in den vergangenen Jahren ständig in den Ohren. In der Schule als „Weichling“ beschimpft, vom Vater geohrfeigt, weil „ein Junge sich nicht schminkt“, aus der Gemeinschaft ausgestoßen als Waria. „Es gilt als Schande.“ Dann der Bruch mit der Familie, die Entdeckung von Sex und die Notwendigkeit, sich mit 17 zu prostituieren – „der einzige Weg zu überleben“. In der Schule, ihrem „Zufluchtsort“, betet sie vorerst fünf Mal täglich: „Frieden mit Allah zu machen, einen Ort zu haben, an dem man offen in Frauenkleidern beten und das Wissen über den Islam vertiefen kann, all das ist eine sehr befreiende Erfahrung.“
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