Ein unter Fernsehjournalisten verbreitetes Sprichwort lautet: "Das versendet sich". Diese Redewendung wird immer dann gerne bemüht, wenn sich in einem fertigen Beitrag ein Fehler findet. "Das versendet sich" äußert die Hoffnung, dass der Zuschauer den Fehler zwar registrieren, aber schnell wieder vergessen wird. Einen Ausflug in ein Fernseharchiv wird er wohl kaum auf sich nehmen, um das Gesehene und Gehörte nochmal auf seine Richtigkeit zu prüfen.
Das Kurzzeitgedächtnis und die menschliche Bequemlichkeit – zwei Phänomene, die lange Zeit auch Politikern zugute kamen. Gerade in einem Superwahljahr: Von nahezu allen Seiten und beinahe täglich sieht sich der Bürger (und Wähler) von Versprechungen nahezu überrannt. Wie soll er da die Übersicht behalten? Mal ehrlich: Wer kann heute noch aus dem Stand heraus sagen, wie sich die Union im Bundestagswahlkampf 2005 zu Mehrwertsteuererhöhungen verhielt?
Archiv im Wohnzimmer
"Das Internet kann es", sagt Daniel Dietrich. Der 36-Jährige gehört zu "Tactical Tools", einem Drei-Mann-Team, das wahlversprechen.info erfunden hat. Eine Seite, die Wahlversprechen von Politikern zusammenträgt und ordnet. Zum Beispiel nach dem Zeitpunkt des Versprechens, nach Partei, nach Stichwort oder nach ihrem Status: "Gebrochen", "Erfüllt", "Hinfällig", "Umstritten" oder "Offen". Die Seite trägt die Überschrift "ein kollektives Langzeitgedächtnis".
Dierich und seine beiden Mitstreiter wollen das Archiv ins Wohnzimmer bringen. Mit ein paar Klicks kann der Leser - und Wähler - nach konkreten Versprechen suchen, einer Partei auf den Zahn fühlen oder auch ein Thema per Stichwort daraufhin überprüfen, welche Partei sich seiner überhaupt schon angenommen hat. Registrierte Nutzer werden außerdem auf Wunsch über Änderungen bei ausgewählten Themen benachrichtigt.
Er wolle die Mitmachdemokratie, sagt der Programmierer Dietrich, der die Seite ebenso wie seine beiden Mitstreiter aus eigener Tasche finanziert und in seiner Freizeit pflegt: "Wir unterstützen den mündigen Bürger, der Politik wieder ernst und Politiker beim Wort nimmt."
Jeder kann, ja: soll mitmachen
Konsequent, dass die Bürger auch für die Seite verantwortlich sind, denn sie funktioniert nach dem Wikipedia-Prinzip: Jeder kann mitmachen - und viele müssen mitmachen, wenn die Seite funktionieren soll. Es sind die Leser von wahlversprechen.info, die die Versprechungen sammeln, nur beaufsichtigt von einigen wenigen Administratoren.
Natürlich darf auf der Seite Andrea Ypsilanti nicht fehlen. Die hessische SPD-Frau hatte vor der Landtagswahl 2008 wiederholt versichert, auf keinen Fall mit der Linkspartei zu koalieren. Die Konsequenzen ihre Wortbruchs trugen zum Sturz des damaligen SPD-Vorsitzenden Kurt Beck bei, die Ausläufer beschäftigen die Sozialdemokraten noch heute. Die "Ypsilanti-Falle", in die die SPD laut bürgerlichem Lager auch bei der Bundestagswahl tappen könnten, ist fast schon ein geflügeltes Wort.
"Ypsilanti war natürlich eines der ersten Versprechen auf unserer Seite", bestätigt Dietrich. Allerdings gehe es weniger um die Zusammenstellung von bereits Bekanntem, sondern um Nutzwert: "Wir glauben, dass das Wissen der Bürger eine Grundvoraussetzung dafür ist, dass er sich ein Bild machen kann und damit an der Gesellschaft aktiv teilnehmen kann. Zum Beispiel, indem er Versprechen von Politikern von Anfang an begleitet – bis zum Bruch oder bis zur Erfüllung. Wir wünschen uns, dass das runtergeht bis auf die kommunale Ebene."
Wenig bekannt, nicht minder relevant
Die Anfänge sind gemacht. Schon heute finden sich auch weniger skandalträchtige Ankündigungen auf wahlversprechen.info, die den Sprung auf die Titelseiten der Zeitungen wohl nicht schaffen werden, für bestimmte Gruppen aber nicht minder relevant sind. Zum Beispiel die Stipendien für Mediziner, die die FDP in Sachsen im Kampf gegen den Ärztemangel vor der Landtagswahl Ende August versprochen hatte. Sie sind nun nicht mehr nur im Wahlprogramm der Liberalen nachzulesen, sondern auch auf wahlversprechen.info. Die Tinte unter dem Koalitionsvertrag zwischen CDU und FDP im Freistaat ist noch nicht trocken, doch die Beobachtung läuft bereits. "Offen" lautet der Status unter diesem Versprechen bisher.
Das Umwandeln von Daten in lebensnahe und verwertbare Portionen - dieses Prinzip wollen sich Dietrich und seine Mitstreiter zu eigen machen, um das zu verwirklichen, wofür wahlversprechen.info erst der Anfang sein soll und was Dietrich und Co. "politische Software" nennen. Ihre Vision: ein Staat, der seinen Bürgern seine Daten automatisch zur Verfügung stellt, die von Unternehmen wie "Tactical Tools" weiterverarbeitet werden. "Nichtregierungsorganisationen könnten damit arbeiten, Nachbarschaftsinitiativen oder auch Journalisten", sagt Dietrich.
Ist das Zukunftsmusik in einem Land, in dem das Informationsfreiheitsgesetz den Bürgern auf Anfrage zwar das Recht auf den Zugang zu Daten von Bundesbehörden einräumt, allerdings regelmäßig für Konflikte sorgt? "In den USA ist das gerade ein großes Thema, das wird also auch hier in zwei, drei Jahren auf der politischen Agenda landen", meint Dietrich.
Übrigens: Im Wahlkampf 2005 hatte die damalige CDU-Spitzenkandidatin Angela Merkel zwei Prozentpunkte Mehrwertsteuererhöhung angekündigt. Die SPD lehnte eine Erhöhung damals komplett ab. Nach der Wahl wurde die Steuer dann um drei Prozentpunkte erhöht.
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