Ein Booster für die Demokratie

Urteil gegen Hass im Netz Die Entscheidung aus Karlsruhe zugunsten von Renate Künast ist ein Meilenstein im Umgang mit Beleidigungen im Internet. Trotzdem bleibt die Politik ohnmächtig gegenüber der Macht der sozialen Medien
Ausgabe 06/2022

Halleluja! Halten wir kurz inne. Und ihn fest, diesen Moment des Frohlocken-Könnens. Denn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen „Renate Künast gegen Hass im Netz und gegen die Plattformen, die einfach nur zuschauen“ ist nicht weniger als ein Meilenstein.

Was da in Karlsruhe entschieden und wie es begründet wurde, markiert das Ende eines riskanten Irrtums: dass das, was im Netz passiert, nicht so schlimm ist. Weil es digital ist, schriftlich. Und weil man den sozialen Netzwerken ja auch einfach fernbleiben kann. Eine unter Polizisten, Staatsanwälten und auch Richtern bis heute vorherrschende Sichtweise, die auf zwei Ebenen problematisch ist: Erstens handelt es sich dabei um astreine Täter-Opfer-Umkehr. Und zweitens sind soziale Medien längst eine Sphäre gesellschaftlichen Austauschs und gesellschaftlicher Teilhabe. Ohne Netz ging es ganz gut, als Faxgeräte noch das Mittel der Wahl waren.

Beleidigung ist und bleibt Beleidigung

Entsprechend überfällig war ein zeitgemäßes Urteil wie dieses. Nicht nur haben sie in Karlsruhe entschieden, dass Beleidigungen wie „Drecks-Fotze“ oder „Stück Scheisse“ (sic!), wie sie Künast in einem Shitstorm 2019 auf Facebook entgegenschlugen, auch dann Beleidigungen sind, wenn sie im Netz passieren. Nein, viel besser: Sie haben entschieden, dass die Justiz gerade sehr sorgfältig auf dort stattfindende Ausfälle schauen muss. Denn was in sozialen Netzwerken kursiert, erreicht ungleich höhere Geschwindigkeiten und eine größere Reichweite als das gesprochene Wort – und hat nicht dessen Flüchtigkeit. Was geschrieben ist, bleibt in der Welt.

Die Hürden für das, was Politikerinnen wie Künast sich bieten lassen müssen, bleiben zwar niedriger als die für Otto Normal-User. Aber die Meinungsfreiheit hat ihre Grenzen. Und die hat Karlsruhe gerade definiert. Endlich auch für Hate Speech im Netz.

Trotzdem bedeutet das Künast-Urteil nicht für alle einen Grund zur Freude, für einige sogar eine Klatsche. Für die Richter am Landgericht Berlin zum Beispiel, die 2019 entschieden: Keine der 22 Äußerungen, die Künast ihnen vorgelegt hatte, sei eine Beleidigung. Die Grüne müsse sich als „Drecks-Fotze“ beschimpfen lassen, Facebook deshalb die Daten der Verfasser solcher Entgleisungen nicht preisgeben. Ein Dammbruch, hätte die Entscheidung Bestand gehabt.

Die Politik ist auf das Wohlwollen der Plattformen angewiesen

Nun müssen die Richter erneut ran, so Karlsruhe, unter Berücksichtigung der jetzt festgelegten Parameter. Und somit entscheiden, ob Facebook die Daten herausgeben darf. Darf. Ob Facebook das dann tut, steht auf einem anderen Blatt. Aktuell wird die Ohnmacht der Politik ja offenbar: Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Justizminister Marco Buschmann (FDP) brauchten ausgerechnet Google – zu dem die hassverseuchte Youtube-Plattform gehört –, um überhaupt an eine E-Mail-Adresse der Betreiber von Telegram zu kommen. Und feierten anschließend, diese Mailadresse zu haben. Ein peinliches Eingeständnis eines gefährlichen Machtgefälles.

Unabhängig davon: Das Künast-Urteil ist ein Demokratie-Booster. In einer Umfrage von 2021 gaben 19 Prozent der Bürgermeister in Deutschland an, schon einmal erwogen zu haben, ihr Amt niederzulegen, aus Angst um sich und ihre Familien. Sie fühlten sich von Polizei und Gerichten nicht ausreichend geschützt. Ein bisschen hat sich das vergangene Woche geändert. Vielleicht. Hoffentlich.

Nicole Diekmann ist Autorin des Buchs Die Shitstorm-Republik (KiWi 2021). Sie arbeitet als Hauptstadtkorrespondentin fürs ZDF

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