Gemächlich läuft sie über die vierspurige South Extension Road. Kein Blick nach rechts, kein Blick nach links. Geschmeidig bewegt sie ihre abgemagerten Hüften und hält ihren Kopf leicht gesenkt auf dem Weg zur anderen Straßenseite, wo sie wie jeden Morgen ihr Frühstück suchen will. Plötzlich flitzt ein Auto mit 70 km/h an ihr vorbei. Und noch eins und noch eins. Aber nichts bringt Aruna aus der Ruhe. Auch nicht die quietschenden Bremsen der Motorrikscha, die nur einen Meter vor ihr zum Stehen kommt. Fluchend und hupend versucht der Fahrer sie anzutreiben. Sie ignoriert das Geschrei und pausiert erst einmal. Und bringt damit wie viele ihrer Artgenossen tagtäglich den Verkehr in der Elf-Millionen-Metropole Neu Delhi zum Stillstand. Aruna ist vier Jahre alt, hat eine Schulterhöhe von 1 Meter 60 und entgeht Tag für Tag scheinbar nur knapp dem Unfalltod.
Aruna ist eine Kuh. Aber nicht irgendeine, sondern trotz ihres struppigen und dreckigen Fells die Lieblingskuh von Satinder. Satinder ist 46 Jahre alt, Sikh und von Beruf Kuhhirte in Neu Delhi.
Wer jemals in der Hauptstadt des indischen Subkontinents war, wird dies kaum glauben. Denn in der Elf-Millionen-Stadt, so scheint es, geht jede Kuh ihren eigenen Weg. Geschätzt wird, dass rund 500.000 Rinder im unüberblickbaren Gewirr der Stadt leben. Sie bringen den Verkehr zum Stillstand und so manchen Motorradfahrer durch ihre Fladen zum Rutschen. Aber nicht nur für die sind die Tiere eine heilige Plage. Auch Rhagu, ein Busfahrer, ärgert sich immer wieder über sie. Als wäre sein Job mit 16 Stunden pro Tag an sechs Tagen in der Wochen nicht schon hart genug, werden die Tage für ihn manchmal noch länger, wenn sich wieder eine Herde mitten auf der Straße trifft. "Es ist ja gut und schön, dass man die Tiere schützen will. Aber wäre es nicht auch für die Kühe besser, wenn sie woanders leben könnten? Das würde das Verkehrsproblem vielleicht ein bisschen eindämmen."
Das Problem mit dem Reittier des Gottes Shiva haben die Engländer den Indern beschert, als die britische Krone Delhi zur Hauptstadt machte. Damals wurde aus mehr als 300 kleinen Dörfern die Stadt erst gestaltet. Unter den Dörfern auch viele, in denen das eigentlich heilige Rind so manchem Bauer als Lebensunterhalt diente. Neu Delhi wurde nach den Vorstellungen der Briten völlig umgekrempelt. Platz blieb dabei nicht viel für die Kühe. Anstelle von Weideplätzen entstanden die breiten Alleen des britischen Empire. Und die fordern die Kühe nach wie vor ein.
Und so ist es auch heute noch. Satinder zum Beispiel überlässt seine Herde jeden Morgen sich selbst und hofft darauf, dass sie ihr Futter selber finden. "Ich habe keine andere Wahl. Ich kann ihnen nichts zum Fressen kaufen." Aber die meisten seiner sechs Tiere sehen nicht so aus, als wären sie bei ihrer täglichen Futtersuche erfolgreich. Denn Futter finden sie nur auf den Verkehrsinseln oder im Müll, der am Straßenrand liegt. Bei allen sieht man die Rippen, die großen Augen wirken in den schmalen Schädeln noch größer.
Ob die Kühe eine Gefahr für die Autofahrer sind oder ob der hektische Verkehr eine Zumutung für das heilige Tier ist, ist eine Frage der Perspektive. Und von denen gibt es in der Hauptstadt der heterogensten Demokratie der Welt viele. Den Sikhs ist es egal, die Muslime betreiben legale und illegale Schlachthöfe und die Hindus trinken nicht einmal ihre Milch. Die Kuh ist unantastbar für sie. Das Nebeneinander gelingt, ob aus Rücksicht oder Routine ist nicht eindeutig zu sagen.
Auch wenn man es als Fremder in der Stadt nicht für möglich hält, aber es sterben mehr Tiere an unbeabsichtigt verschluckten Plastiktüten als im für den Europäer unüberblickbaren Straßenverkehr.
Weil Satinder sich keinen ordentlichen Stall für seine Tiere leisten kann, hat er einen einfachen Verschlag auf der Straße gebaut, und auch die Tränke versperrt den Gehsteig. "Aber hier in meinem Viertel macht das nichts. Alle haben die gleichen Probleme, keiner beschwert sich darüber."
Anders in Stadtteilen, wo einflussreiche Anwohner unzufrieden sind, weil alles durch Kühe und Futtertröge verstopft ist. Dann nämlich schreitet die Staatsmacht ein und transportiert die Rinder - ob herrenlos oder nicht - ab und bringt sie in die Tierheime an den Stadtrand. Das ist Satinder noch nicht passiert. Zum Glück sagt er. Denn er lebt mit und vor allem von ihnen. Manchmal verkauft er ihre Milch und von Zeit zu Zeit muss er auch eine Kuh verkaufen. Dann nämlich, wenn das Geld, das er mit seiner kleinen Schreinerei verdient, mal wieder nicht reicht um seine fünfköpfige Familie zu ernähren. "Die Kühe sind mehr eine alte Familientradition als ein einträgliches Geschäft", erklärt er, "mein Großvater hatte eine große Herde, und auf dem Land war es für ihn einfacher, Handel mit Kühen oder ihrer Milch zu treiben." Für die Milch seiner Kühe hat Satinder feste Abnehmer. Es sind ausschließlich Muslime und Sikhs, die sich ein bis zweimal die Woche ihre Milch abholen. Mehr als sechs bis sieben Liter täglich geben die Tiere sowieso nicht. Zum Vergleich: manch eine europäische Superzüchtung gibt zwei mal zwanzig Liter am Tag.
Warum die Kuh heilig ist, darauf haben viele Hindus, wenn man sie auf der Straße fragt, keine Antwort. Der Grund ist einfach und liegt zum Teil sozusagen auf der Straße: Ihr Kot kann als Brennmaterial benutzt werden, ihre Milch kann zu vielerlei Produkten verarbeitet werden, und sie kann als Zug- und Pflugtier eingesetzt werden. Die Heiligkeit ist also auf ihre ökonomische Bedeutsamkeit zurückzuführen. Die Milch hilft Satinder beim Überleben. Aber angesehen ist dieses Geschäft nicht.
Noch weniger ist es der einzig staatlich legalisierte Schlachthof in Neu Delhi, der von Muslimen betrieben wird. Jeden Morgen um vier erreicht ein Tiertransporter die Igdah Road in Neu Delhis muslimischem Viertel. Die Transporter sind zu eng, sie sind vielleicht gerade für die Hälfte der Tiere ausreichend. Auf der engen Ladefläche brechen sich die Kühe die Beine, stechen sich mit ihren Hörnern die Augen aus oder müssen stundenlang das Gewicht ihrer Leidensgenossen tragen. Um die Tiere nach der Ankunft von den Transportern zu treiben, werden ihnen die Schwänze gebrochen oder man streicht Chilipulver auf ihre Augen, damit sie - verrückt vor Schmerz - auf den Hof laufen.
In den Schlachthöfen geht das Leiden weiter bis zum Tod: Es gibt keine Betäubungen und oft nur rostige Messer. "Manch eines der Tiere ist noch beim Häuten bei Bewusstsein. Heißes Wasser wird ihnen über die Haut gegossen, während sie, an ihren Hinterbeinen aufgehängt, auf den erlösenden Tod warten", so Maneka Gandhi, der im indischen Parlament arbeitet. Die Tatsache, dass unter den Schlachtern in der Igdah Road auch Kinder sind, ist für Gandhi nichts neues: "Sie stumpfen ab und sehen das Leid der Tiere gar nicht."
Unter den Kuhbesitzern geht das Gerücht um, dass herrenlose Tiere nicht unbedingt in die Tierheime, sondern eben auch in diesen Schlachthof gebracht werden und anschießend als billiges Lederprodukt mit kleinen "Made in Italy"- Schildchen auch in vielen deutschen Geschäften und Ketten käuflich zu erwerben sind.
Satinder kennt den Schlachthof. Und gerade deshalb ist er froh, wenn seine Herde sich abends wieder vollständig vor seiner kleinen Hütte einfindet. Denn für ihn sind seine Tiere und gerade Aruna nicht nur aus ökonomischen Gründen heilig. Für ihn sind sie nicht nur ein Teil des Lebensunterhalts, sondern auch wie eine Familie.
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