"Im 21. Jahrhundert, da Bob Marley und Beckham, Hiphop und Hotmail in jeden Weltwinkel vordringen, sind wir alle Touristen, sobald wir uns in die Fremde begeben, um neue Erfahrungen zu machen und los zu lassen vom Rennen im Hamsterrad des Kapitalismus", schreibt Niels Boeing über eine lange Reise durch Afrika in diesem Jahr. Seine Erinnerungen an wesentliche Stationen zwischen Kairo und Kapstadt hat er zu einem Reportagezyklus zusammengefasst, den wir in mehreren Folgen abdrucken.
Der Schwarze Kontinent wartet. Endlich heraus aus Ägypten, weg von all den Steinen aus Jahrtausenden, von den Horden der Niltouristen. Ein letztes Nadelöhr müssen wir noch passieren, den Nasser-Stausee, dann liegt dieser riesige Kontinent offen vor uns. Back to the roots, das muss es sein, denke ich in kindlicher Freude und weiß doch nicht, was ich dort wirklich zu finden hoffe.
Als wir mittags am Fähranleger beim "High Dam", dem großen Staudamm südlich von Assuan, ankommen, glauben wir zunächst an einen schlechten Witz. Dieser Seelenverkäufer soll die Fähre sein? Als uns der Mann von der River Nile Transport Company in Assuan mitteilte, es würden 600 Passagiere mitfahren, waren wir erleichtert. Das ist ja nichts im Vergleich zu der Zweitausend-Mann-Fähre, mit der wir von Jordanien über das Rote Meer zur Sinai-Halbinsel unterwegs waren. Dachten wir. Aber dieses alte Boot ist kaum größer als eine der Fähre im Hamburger Hafen.
Wir gehen an Bord und breiten unsere Decke unter einem der beiden Rettungsboote aus. Und dann schauen wir erst einmal sieben Stunden dem Spektakel des Beladens zu. LKW um LKW rollen auf den Kai, turmhoch beladen mit Matratzen, Kühlschränken, Farbeimern, Cola-Paletten, Zwiebelsäcken, Stoffballen - alles, was aus Ägypten in den Sudan eingeführt werden soll, muss über diese einzige Verbindung zwischen beiden Ländern verschifft werden. Wütend brüllende Hafenarbeiter schleppen die Fracht an Bord, kein Kran, der ihnen die Arbeit erleichtern würde. Die 600 Reisenden schieben sich dazwischen, bis jeder Quadratzentimeter Stellfläche von Menschen und Gütern bedeckt ist. Sogar die Rettungsboote werden vollgepackt.
Das Tüpfelchen auf dem i ist der Jeep eines älteren holländischen Paares, der zuletzt auf den Schleppkahn muss. Auf dem werden weitere Tonnen Fracht hinter der Fähre herschippern. Inmitten der Kisten und Ballen haben die Hafenarbeiter einen kleinen Korridor freigelassen, in den der arme Holländer seitlich seinen Wagen manövrieren soll. Dumm nur, dass unter der Last der Kahn inzwischen einen Meter unter die Kaimauer gesunken ist. Anstatt Planken zu legen, wird der Schleppkahn kurzerhand ein paar Meter nach links manövriert, bis die Kaimauer das Schiffsdeck nur noch um 30 bis 40 Zentimeter überragt. Die Menge an Bord hält den Atem an. Wird der Jeep im Wasser landen? Nein, irgendwie setzen die Vorderräder doch auf dem Kahn auf, und zwei Minuten später ist das ganze Fahrzeug an Bord. Man möchte fast applaudieren.
Als wir endlich ablegen, ist es schon dunkel. Dann tuckern wir die nächsten 20 Stunden über den Nasser-Stausee. Als ich später unser Bordessen, das jedem Passagier zusteht, abhole, schlägt mir unter Deck eine wüste Geruchsmischung aus Erbrochenem und gekochten Saubohnen entgegen. Über Kisten, Beine und andere Körperteile trage ich die Tabletts aufs Deck. Immerhin schmeckt es, aber was heißt das schon? In solch einer Situation schmeckt fast alles, was satt macht.
Die Nacht ist lang und der Schlaf kurz. Immer wieder wachen wir auf, weil unsere Knochen auf dem harten Stahlboden des Decks ächzen oder ein anderer Passagier im Schlummer seine Arme oder seine Beine auf uns wälzt. Dann geht endlich die Sonne auf. Am Seeufer ist nichts, kein Haus, kein Baum, kein Strauch. Tempel und Dörfer sind hier vor über 40 Jahren in den gestauten Nilfluten versunken. Es ist, als ob wir auf einer traurigen Arche am zweiten Schöpfungstag durch das Universum schippern: nur Wasser, Wüste und gleißendes Licht.
Brachflächen und Hausskelette
Um drei Uhr nachmittags legen wir schließlich im sudanesischen Wadi Halfa an. Das ist also der Anfang von Afrika: Ein paar Lehmhäuser in einer staubigen Ebene zwischen verbrannten Hügeln. Auf ein paar glühenden Steinen in einem mit einer Mauer eingefassten Hof brät ein Sudanese Fisch und Lammfleisch, dazu reicht er Brot. Die Schlichtheit siegt: Es schmeckt phantastisch.
Aber der Friede dieser Einöde täuscht. Im Haus nebenan, der "Telefonzelle" des Wüstenortes, deutet ein Mann auf alte gerahmte Schwarz-Weiß-Bilder, die an der Wand lehnen. Ein Hotel ist darauf zu erkennen, daneben stehen zweigeschossige Häuser im Kolonialstil. "Das war Wadi Halfa, bevor es für immer im Stausee versank", sagt er und nimmt ein Bild auf. Die Briten, einst Kolonialherren in dieser Weltgegend, hätten die Nubier, die hier leben, betrogen. "Nubien ist einmal ein eigenes Land gewesen, aber wir wurden zwischen Ägypten und dem Sudan aufgeteilt." Dann stellt er das Bild wieder auf den Boden und lächelt, als habe er sich mit dem Fluch des Kolonialismus längst abgefunden.
Zwei Tage später erreichen wir Khartum - ein Lehm und Beton gewordenes Nichts am Zusammenfluss von Weißem und Blauem Nil. Im Industriegebiet, gelegen an der nördlichen Peripherie der Stadt, warten Ziegenherden mit ihren Hirten zwischen Fabriken auf was auch immer. Überall sieht es aus wie nach einem Bombardement. Allenthalben Brachflächen und Hausskelette, bei denen man nicht weiß, ob es unfertige Neubauten oder Ruinen sind. Und doch hat hier nie ein Krieg stattgefunden. Der in Darfur ist weit weg, niemand verliert ein Wort darüber.
Am Nilufer in der Innenstadt langweilen sich grimmige Soldaten vor Ministerien. Kein Café, keine Promenade. Als wir uns auf eine Bank setzen, um auf den traurigen Nil zu schauen, werden wir vertrieben. Hinsetzen nicht erlaubt. 1977 lebten hier eine Million Menschen, heute sind es wohl zwei oder drei, aber seit 30 Jahren hat niemand mehr nachgezählt. Die Innenstadt ist ebenso amorph wie die Vorstädte, auch hier Seitenstraßen voller Schutt und Abfälle, Bankgebäude in einem undefinierbaren Architekturstil, die eine oder andere Ziege. Das klingt vielleicht ganz romantisch, ist aber nur trostlos.
Der Freundlichkeit der Sudanesen tut das allerdings keinen Abbruch. Ein Späßchen, ein Lachen, und wenn man nicht weiter weiß, hilft jemand.
Der Humor ist ihnen offenbar nicht zu nehmen in diesem streng islamischen Land, in dem nicht einmal ein kühles Bier am Abend eines heißen Tages erlaubt ist.
Später, unterwegs in der sudanesischen Provinz, lese ich in einer Kolumne der Tageszeitung Sudan Monitor, Frauen hätten ein Alkoholgebräu entwickelt, das knallt, und es Internet getauft, "because it connects you to the world within", wie der Autor schreibt - es verbindet dich mit der Welt innen drin. Die haben die Essenz des Informationszeitalters begriffen, denke ich. Könnten diese Frauen nicht den sudanesischen Staat übernehmen?
Kunst des Recyclings
Die Kunst der Improvisation in Vollendung entdecken wir zwei Wochen später in Addis Abeba. In der äthiopischen Hauptstadt, die alle nur Addis nennen, gibt es nämlich nicht einfach nur einen Markt. Es gibt den "Mercato", den größten Handelsflecken dieser Art in Ostafrika. Eine Stadt in der Stadt. Der Markt ist so groß, das wir ihn zunächst fast übersehen. Denn all die Wellblechdächer, die sich westlich der "Piazza" den Hang hinabziehen, gehören nicht heruntergekommenen Wohnhäusern. Es sind Marktbuden, zwischen denen Gänge von höchstens anderthalb Metern Breite bleiben.
Der Mercato erfordert eigentlich einen eigenen Stadtplan. Da gibt es ein ganzes Viertel, in dem nur Stoffe verkauft werden, so groß wie in vielen anderen Städten der ganze Markt, es gibt "Stadtteile" für Schuhe, Korbwaren, jeden Haushaltskram... Nachdem wir zwei Stunden in sengender Hitze durch dieses scheinbare Labyrinth gelaufen sind, kommen wir in eine Gasse ohne Asphalt, voller Schotter und Schlaglöcher. Laster und Minibusse haben sich in einen Stau verkeilt, es geht nicht vor und nicht zurück, Menschen schieben sich zwischen den Wagen hindurch.
An einer Ecke werden leere Mineralwasserflaschen zu Bündeln verschnürt, leere Konservendosen gesammelt und weiter verkauft. Jürgen Trittin hätte hier seine Freude. Ein paar Meter weiter stoßen wir auf Haufen alter Reifen. Einige werden zerschnitten und umgehend in jene Sandalen verwandelt, die schon Hemingway in den dreißiger Jahren an afrikanischen Füßen bewundert hat.
Wir gehen weiter, winden uns zwischen "you" rufenden Kindern und neugierigen Erwachsenen hindurch. Die Gasse wird immer enger und schmutziger, fällt ab, Ölschlieren schimmern in Pfützen zwischen losen Wackersteinen. Ein paar junge Männer sitzen in diesem Dreck und biegen Armiereisen zurecht. Hier ist kein Durchkommen, wir suchen einen anderen Weg. Ein lautes Hämmern ertönt. Schwarzverschmierte Äthiopier schlagen auf ausrangierte Stoßdämpfer von Lastern und Bussen ein. Wir biegen um die Ecke und landen in einer "Stahlhandlung". Überall ragen Stäbe, zu Bündeln geschnürt, meterhoch in den Himmel. Nebenan werden Lederriemen zurechtgeschnitten. Frauen tragen Körbe und Wannen vorbei, niemand steht still, alle suchen den Weg zu einem Gegenstand, der ihnen fehlt.
In einem Verschlag sitzt ein Mann und repariert Bügeleisen. An den Wänden stapelt sich Elektroschrott, so geht es Laden für Laden weiter, kein Knopf, kein Schalter, kein Motor, der hier nicht zu finden wäre. Was bei uns wahlweise als ökonomischer Luxus oder ökologische Zukunftsvision gilt, hier ist es blanke Überlebenskunst. Alles muss wiederverwertet werden, weil das Neue unbezahlbar ist. Die Alltagstechnik, die wir zu Hause im Geschäft kaufen, nur weil eine Sicherung durchgebrannt ist oder eine Reparatur teurer als ein neues Gerät, gilt hier als schweineteurer Import, den sich nur die Upper Class leisten kann. Der Rest ist auf die Kunst des Recyclings angewiesen.
Was uns auf den ersten Blick bemitleidenswert oder rückständig vorkommt, könnte in nicht so ferner Zukunft zur Notwendigkeit für einen ausgelaugten Planeten oder Erdteil werden. Wenn eine neue Ölkrise oder ein Crash der Weltwirtschaft die Hightech-Zivilisation des Westens zusammenbrechen ließe, wäre Addis längst gewappnet - eine Arche der Technologie. Hier wüsste man die Lebensdauer der modernen Technosphäre noch um Jahre zu verlängern, während man bei uns längst resigniert hätte, weil nichts mehr geht. Zum ersten Mal seit Assuan habe ich etwas entdeckt, das Afrika uns voraus haben könnte.
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