„Die Zeit der urbanen Revolution hebt an“, schrieb der französische Philosoph und Marxist Henri Lefebvre 1970. Gerade mal zwei Jahre nach dem Pariser Mai ‘68 erwies sich diese Prognose als verfrüht. Doch jetzt gärt es wieder in den Städten der Welt. Neue Bewegungen greifen den neoliberalen Kapitalismus auf urbanem Terrain an. In New York, Istanbul, Durban, Hamburg, Wien fordern sie das „Recht auf Stadt“ und knüpfen damit an Lefebvres Buch Le droit à la ville von 1968 an, das nun endlich auch auf Deutsch erschienen ist. (Unter freitag.de/lefebvre ist eine Rezension zu lesen.) „Die Zeit ist reif für dieses Buch“, stellt der Hamburger Künstler und Aktivist Christoph Schäfer im Vorwort fest. Lefebvres Ü
chäfer im Vorwort fest. Lefebvres Überlegungen zur Stadt sind unerwartet aktuell – und sie bieten einen Ansatz für einen neuen linken Gesellschaftsentwurf. Dazu fünf Thesen:1 Die Verstädterung der Gesellschaft ist in der kritischen Zone angekommen.Die Stadt ist mehr als die Summe ihrer Gebäude. Sie ist, nach Lefebvre, Ausdruck gesellschaftlicher Ordnungen. So manifestierte sich die politische Stadt der Antike als Machtzentrum. In der Handelsstadt des Mittelalters war sie der Ort einer neuen Markt-Ökonomie. Als Industriestadt wurde sie zur „summarischen Verkehrsordnung“, die die Ströme der Rohstoffe, Waren und Arbeitskräfte organisiert. Lefebvres Analyse ist vom Fordismus und dessen Siedlungen, Vorstädten und Fabriken geprägt, doch bemerkte er auch: „In den Stadtzentren ersetzen Büros die Wohnungen.“ Die industrialisierten Nationen näherten sich so der „kritischen Zone“. Deren Umrisse konnte Lefebvre seinerzeit nur erahnen.Wir wissen heute: Der Fordismus wich der postindustriellen Dienstleistungsökonomie, die vom „Spiel zwischen Personen“ (Daniel Bell) gekennzeichnet ist – Personen, die sich selbst auf den Markt werfen müssen und oft genug in die Prekarität abrutschen. Für die happy few der Globalisierung entstehen hingegen absurde Kulturpaläste à la Elbphilharmonie und überdimensionierte cleane Stadtteile der Leere wie das Frankfurter Europaviertel. Eine schleichende Refeudalisierung der Gesellschaft ist im Gange, die sich auch in der Stadtentwicklung widerspiegelt.Jede politische Analyse des heutigen Kapitalismus muss an dieser „kritischen Zone“ ansetzen. Die Stadt ist der Raum, in dem der Kapitalismus abgelöst wird – oder er wird gar nicht abgelöst.2 Die Bewohner müssen von Statisten zu Neu-Erfindern der Stadt werden.„Die städtische Realität wird wiederentdeckt“, schrieb Lefebvre – vor allem werde sie „wiedererfunden“. Moderne Städte sind demnach nicht länger Orte materieller Produktion oder des Lebens. Nein, der städtische Kern werde „zum Produkt eines qualitativ hochwertigen Konsums für Ausländer, Touristen, Leute aus der Peripherie, Bewohner der Vororte. Er überlebt dank dieser Doppelrolle als Ort des Konsums und Konsum des Ortes.“Diese Entwicklung ist mittlerweile in einen Overdrive geraten. Die Städte treten heute als Marken in Konkurrenz zueinander und zehren dabei von ihrer historisch ererbten Substanz, von Palästen, Plätzen, Parks, die der ominösen „kreativen Klasse“ (Richard Florida) gefallen. Die Bewohner mutieren zu Statisten der disneyfizierten Stadt, etwa wenn ganze Viertel zu Entertainment-Bezirken umgeplant werden. Was als „Gentrifizierung“ die Gemüter erregt, ist schlicht die Segregation auf einem kapitalistischen Immobilienmarkt. Mietpreisbremsen helfen genauso wenig wie Appelle an die Politik. It’s capitalism, stupid.Der Weg muss aus der „kritischen Zone“ hinaus führen: in die freie Stadt, in der alle das gleiche Recht auf selbige haben.3 Das Ziel könnte ein urbaner libertärer Kommunismus sein.Lefebvre wusste, was zuvor auch Karl Polanyi in The Great Transformation schon festgestellt hatte: Die Verstädterung der Gesellschaft ist unumkehrbar. Sie umfasst inzwischen die Mehrheit der Weltbevölkerung. Als Lefebvre 1968 erstmals ein „Recht auf Stadt“ proklamierte, wies er alle romantischen Vorstellungen zurück: „Das Recht auf Stadt (...) kann nur als Recht auf das städtische Leben in verwandelter, erneuerter Form ausgedrückt werden.“ Er gab Antworten auf Fragen, die sich jede politische Agenda – auch heute noch – stellen muss. Etwa diese: Wer soll entscheiden? Dem Parlamentarismus, der als Herrschaftsform an den Kapitalismus gekoppelt ist, setzte Lefebvre die Selbstverwaltung (autogestion généralisée) entgegen, die in seinem Entwurf das gesamte Alltagsleben umfasst. Die Bewohner haben demnach nicht nur das Recht auf Wohnen – sondern auch das Recht auf Aneignung.Das bedeutet nichts weniger als einen urbanen libertären Kommunismus: Die Stadtbewohner verwalten sich in Räten und Versammlungen selbst, das Eigentum an Grund und Boden ist vergesellschaftet – nicht auf dem Markt handelbar. Einige Regionen der Welt nähern sich dem bereits an: Im westkurdischen Rojava, in den Consejos Comunales in Venezuela oder den Juntas Vecinales im bolivianischen El Alto bestimmen die Menschen über ihre Belange in einem Ausmaß, von dem Europäer vorerst nur träumen können.4 Die Produktion muss in die Stadt zurückkehren.In der „kritischen Zone“ haben sich Produktionsmittel, technisches Wissen und Klassenbewusstsein weitgehend verflüchtigt. Der Warenstrom fließt aus entlegenen Industriegebieten und Offshore-Zonen in die Stadt hinein. Diese Entwicklung hat Lefebvre nicht mehr miterlebt – ein „Recht auf Arbeit“ zu fordern, kam ihm nicht in den Sinn. Aber: Er propagierte das Recht auf das Werk als eine „teilhabende Aktivität“: Dinge gemeinsam als Gebrauchswert, nicht als Tauschwert herzustellen.Diesem aus der Kunst entliehenen Ansatz folgt inzwischen eine globale Graswurzelbewegung, die das Produzieren in der Stadt wiederentdeckt hat. Sie baut ihre eigenen Maschinen, eröffnet Werkstätten für Communitys, teilt ihr technisches Know-how über das Internet. Noch sind ihre Orte Sprenkel in der postindustriellen Stadt. Und doch zeichnen sich hier Ansätze einer neuen Produktionsweise ab. Sie ist kein Luxus, es geht nicht um Do-it-yourself als Hobby. Die Fähigkeit, selbst zu produzieren, ist vielmehr eine Notwendigkeit, wenn die verstädterte Gesellschaft ihre Komplizenschaft mit der Ausbeutung in den globalen Maquiladoras (Montagebetrieben) hinter sich lassen will.5 Die Migration zeigt: Das Recht auf Stadt kennt keine Grenzen.Die neue Migration, die dieser Tage ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hat, ist der ultimative Angriff auf das Selbstverständnis der neoliberalen Stadt. Die Menschen, die vor Krieg und Armut geflohen sind, bringen nichts mit, woraus sich unmittelbar Kapital schlagen ließe. Für sie ist die Stadt des Nordens ein Ort der Hoffnung, ein Versprechen auf ein gutes Leben, das ihnen in den postkolonialen Gesellschaften des Südens unmöglich war. Die neoliberale Stadt antwortet mit einem „Notstandsurbanismus“, der die Neuankömmlinge in Lagern verwalten, sie aus der Stadt heraushalten und irgendwann wieder abschieben will. Das Hamburger Netzwerk rechtaufstadt.net hat jenen Ansatz in einem Zehn-Punkte-Papier seziert: Weil der neoliberalen Stadt das menschenwürdige Wohnen für alle nichts bedeutet, hat sie den sozialen Wohnungsbau fast auf null gefahren – und ist jetzt überfordert.Zigtausende Menschen haben deshalb mit ihrer Hilfe für Geflüchtete begonnen: Sie öffnen den urbanen Raum für Neuankömmlinge, besetzen dafür auch Leerstände. Das Recht auf Stadt gilt eben für alle, und es beinhaltet auch: das Recht auf Zentralität. Das Zentrum einer freien Stadt soll kein Machtzentrum sein, es ist ein Ort „der Begegnung und des Austauschs“, (Lefebvre), an dem die Menschen gemeinsam das gute Leben verwirklichen. Das Recht auf Zentralität einzufordern stellt die Machtfrage. Rechtspopulisten und Exekutive werden den Status quo verteidigen. Die Bewegung für ein Recht auf Stadt könnte ihn brechen, wenn sie eine Massenbewegung würde. Es ist an den bislang Unschlüssigen, sich für die Bewegungen zu entscheiden – oder für die Barbarei.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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