An einem Frühlingstag des Jahres 2018 wartet Emilij Ostrovko auf den Bus. Er will zu seiner Freundin, die wie er nicht weit entfernt von der weißrussischen Hauptstadt Minsk wohnt. Er holt sein Smartphone heraus, um sich zu melden. Plötzlich greifen kräftige Arme nach ihm. Er windet sich. Vergebens. Emilij wird verhaftet. Zu diesem Zeitpunkt ist er 17 Jahre alt.
Der Junge wird von Polizisten in Zivil durchsucht, die ihn eingeschüchtert hätten, berichtet Emilij später. Was die Beamten bei ihm finden, das ist eine Rauchmischung, die 0,13 Gramm Spice enthält, ein synthetisches Cannabinoid, dem verschiedene Stoffe beigemengt werden können. Emilij hat die verbotene Substanz bei sich, weil er kurz zuvor auf ein Jobangebot im Internet eingegangen ist, mi
en ist, mit dem nach Kurieren für ausdrücklich als legal bezeichnete Rauchmischungen gesucht wurde. Sosehr er auch beteuert, getäuscht worden zu sein – es hilft nichts, er wird angeklagt und zu zehn Jahren Haft verurteilt.Knapp zwei Jahre später, im Frühjahr 2020, hält Julija Ostrovko in einer Minsker Wohnung einen Papierstapel in ihren Händen. Die Frau mit den pechschwarzen Haaren wirkt ausgezehrt und erschöpft. Auf dem ersten ihrer vielen Papiere ist der leicht melancholische Gesichtsausdruck eines jungen Mannes zu sehen. Er hält eine Teetasse mit einem rundlichen Weihnachtsmann darauf in seinen Händen. „Emilij dachte, er kommt hoch hinaus, wollte etwas werden“, sagt Julija und betrachtet das Foto ihres Sohnes. Um sie herum sitzen fünf weitere Frauen. Sie nicken und verstehen Julijas Leid, weil sie eine ähnliche Geschichte mit sich herumtragen. Auch bei ihnen handelt es sich um Mütter verurteilter und – wie sie versichern – irregeführter Drogenkuriere.„Kinder 328“ nennen sich die versammelten Mütter nach dem Paragrafen, der ihren Söhnen zum Verhängnis wurde. Ihre Geschichten ähneln sich: ein Jobangebot im Internet mit der Aussicht auf eine gut bezahlte und legale Tätigkeit, Kontaktaufnahme per Messenger, später der Zugriff durch die Polizei. „Ich wurde nach Emilijs Verhaftung nicht einmal kontaktiert“, sagt Julija. Auch das scheint ein Muster zu sein: Fast alle Mütter erzählen, dass ihre Söhne verprügelt und in eine Zelle gesteckt worden seien. Anschließend bekamen sie ein Dokument zugeschoben, das man getrost ein Geständnis nennen konnte. Die Gefangenen hatten bloß noch zu unterschreiben.Es ist nicht ganz einfach, die Dimension des Problems zu erfassen, da offizielle staatliche Statistiken nur die Anzahl der in Weißrussland insgesamt Inhaftierten benennen: 32.500. Zum Vergleich: In Deutschland sind es etwa doppelt so viele, allerdings bei 83 Millionen Einwohnern gegenüber etwa 9,5 Millionen in Belarus. Die weißrussische Menschenrechtlerin Sviatlana Shelepen schätzt, dass etwa ein Drittel aller Gefangenen wegen Paragraf 328 verurteilt worden ist. Amnesty International (AI) führt ähnliche Zahlen an und geht von etwa 15.000 Betroffenen aus, die in Weißrussland wegen Drogendelikten einsitzen. Ihre Rechte, so AI, würden systematisch verletzt, von der Festnahme über die Gerichtsprozesse bis zu den Haftbedingungen.Skypen mit EmilijMithilfe von Amnesty hat Mutter Julija eine Aktion gestartet, die Unterstützer darum bittet, Emilij per Brief Mut zu machen, weshalb er in seiner Zelle nun Zuschriften aus aller Welt lesen kann. Ihren Sohn selbst bekommt Julija selten zu Gesicht. Zuletzt hat sie sich das Recht erstritten, wenigstens einmal mit ihm skypen zu können. Sie zeigt auf ihrem Smartphone das Video eines früh gealterten jungen Mannes mit fast kahlgeschorenem Kopf. Dieses Gesicht hat nur noch wenig mit dem ganz oben auf ihrem Papierstapel zu tun. Im Video ist nach wenigen Sekunden ein Gefängniswärter zu sehen, der Emilij ermahnt, das Videotelefonat nicht aufzuzeichnen. Bald erlischt das Bild.Natürlich seien ihre Kinder naiv und leichtsinnig gewesen, auf derartige Jobangebote einzugehen, geben die Mütter zu. Sie würden sich auch selbst Vorwürfe machen. Drogendelikte sind keine Bagatelle. Ihre Kinder hätten „mit alldem nie etwas zu tun gehabt“, versichern die Mütter. Keine Frage, Internetshops mit Namen wie „Al Capone“ hätten ihre Söhne niemals trauen dürfen. Eigentlich. Aber es gebe einfach keine Jobs für junge Leute, deshalb würden sie leicht zu Opfern solcher Angebote. Freilich hätten sie noch nie etwas davon gehört, dass die Betreiber dieser Shops gefasst würden. „Es ist absurd, aber sie sind immer noch online, während wir hier sitzen“, sagt Julija. Wie die anderen Mütter auch beklagt sie das Fehlen jeglicher Prävention – und von Verhältnismäßigkeit. Die Mütter haben 32 vergleichbare Fälle zusammengetragen: Für 43 Gramm verschiedener Drogen bekamen 32 junge Männer insgesamt mehr als 300 Jahre Gefängnis.In Weißrussland setzt sich vor allem die Menschenrechtsorganisation „Nasch Dom“ für die Verurteilten ein, fordert ihre Freilassung und berät die Mütter in rechtlicher Hinsicht. Gründerin und Chefin Olga Karatch sieht allein in der Existenz des Vereins „Kinder 328“ einen Fortschritt. Schließlich sei jede Mutter zuvor mit ihrem Schicksal allein gewesen. In diesem Land sei es wichtig, „laut zu sein“, meint Karatch. „Wer bei uns schweigt, geht schweigend unter.“ Dabei sei ihr bewusst, dass es sich um ein schwieriges Thema handle. „Viele wenden sich ab, wenn sie etwas von Drogen hören.“ Problematisch finde sie auch, dass es fast immer nur Mütter seien, die für ihre Söhne kämpfen.Neben zahlreichen Beschwerden, bei denen es um bessere Haftbedingungen ging, versuchen die Frauen von „Kinder 328“ den Machtapparat auch juristisch unter Druck zu setzen. So hat Julija Ostrovko gemeinsam mit Irina Sharkovsky und Olga Savchenko den Staat auf Entschädigung verklagt. Sie alle müssen damit zurechtkommen, dass die Verurteilung ihrer Söhne gesellschaftliche Ächtung nach sich ziehen und Jobverlust bedeuten kann – dass sich nicht selten auch Familienangehörige von ihnen abwenden. Auch sei es im Gefängnis nicht einmal möglich, einen ausstehenden Schulabschluss nachzuholen, klagen die Mütter.Ihr entschlossener, lautstarker Einsatz bleibt nicht ohne Erfolg. So wurde im Vorjahr die Mindeststrafe für Drogenvergehen reduziert, dazu setzte man die Haftzeiten für zahlreiche 328-Gefangene herab. Überdies müssen die „328er“ keine spezielle Armbinde mehr tragen, die als stigmatisierend empfunden wurde. „Es geht doch vorwärts“, meint Julija trotzig. „Ach, Julija, nichts wird hier besser“, entgegnet Olga Savchenko mit Tränen in den Augen. Eine andere Mutter sagt: „Wir erreichen etwas. Aber für die nächsten Kinder. Unsere sind verloren.“Auf die Frage, weshalb das alles geschehen konnte, reden die Frauen wild durcheinander, regen sich auf, sind voller Emotionen und Vorwürfe. Am Ende geht es vor allem um eines – um Geld. Familien müssten für ihre Angehörigen in den Strafanstalten aufkommen, müssten die Verpflegung bezahlen, natürlich die Anwälte und die juristischen Gutachten. Dabei sei es für den Staat doch ausgesprochen einträglich, dass alle Gefängnisinsassen zu täglicher Arbeit verpflichtet seien. „Nasch Dom“ spricht von „Sklavenarbeit“. Die Organisation präsentiert Abrechnungen von Gefängnisinsassen für die Tätigkeit eines Tages. Dort stehen Beträge von fünf Rubel oder 5,34 Rubel. Das sind auf einen Monat gerechnet etwa ein bis zwei Euro. Die Gefangenen stellen von Hand Möbel her, die in mehr als 20 Länder exportiert werden, darunter auch Deutschland. Die Herkunft dieser Waren liegt klar zutage, dennoch wird bisweilen sogar auf Messen dafür geworben.Es verwundert kaum, dass die Mütter zu wissen glauben, wer die dubiosen Internetshops betreibt, mit denen ihre Kinder ins Verderben gelockt worden sind: Es seien Polizisten. Beweisen können die Frauen ihre Behauptung nicht. Aber die Wut in Belarus über korrupte und womöglich kriminelle Beamte wächst. Weitere Unterstützergruppen entstehen, fast immer tragen sie die Zahl 328 im Namen. Im Netz kursieren Dokumentarfilme, die neben dem Schicksal der Jugendlichen auch die andere Seite ins Visier nehmen, also die zuständigen Beamten im Staatsapparat von Präsident Aljaksandr Lukaschenka. Per Drohne gefilmte Aufnahmen zeigen Paläste, die irgendwo in den Hügeln von Beverly Hills herumstehen könnten, tatsächlich aber im Minsker Umland zu finden sind. Der Betrachter dieser Bilder erinnert sich unweigerlich an die Entlohnung der Gefangenen im Strafvollzug.Gern würde man an dieser Stelle die detaillierte Meinung der zuständigen weißrussischen Behörden zitieren. Die Antworten aber, wenn sie denn kommen, tragen kaum zur Aufklärung bei. Der Generalstaatsanwalt lässt ausrichten, ihm fehle für ein Statement zu Paragraf 328 die Zeit. Das Innenministerium erklärt langatmig und umständlich, dass bei der Bekämpfung der Drogenkriminalität im Land alles streng nach Gesetz ablaufe. Entgegen den Angaben der Mütter könnten junge Strafgefangene sehr wohl hinter Gittern ihren Schulabschluss machen. Die Mütter wiederum beharren darauf, dass es ihren Kindern nicht möglich war. Es steht Aussage gegen Aussage.Natalja ist ruiniertDeutsche Bundestagsabgeordnete richteten im Juni 2019 eine Kleine Anfrage zur Menschenrechtslage in Weißrussland und zu Paragraf 328 an die Bundesregierung. Die Strafen für Minderjährige wurden in der Antwort als „unverhältnismäßig hoch“ bezeichnet. Doch Lukaschenka hat aus dem Westen aktuell nicht viel zu befürchten. Der Langzeitherrscher laviert geschickt zwischen Moskau und der EU-Zentrale in Brüssel. Auch die Beziehungen zu China befinden sich im Aufschwung. In diesem Sommer steht eine – wegen der Corona-Pandemie freilich noch nicht terminierte – Präsidentenwahl an.Welche langfristigen Auswirkungen Paragraf 328 für das Land hat, lässt sich beim Verein „Kinder 328“ am deutlichsten an einer Mutter ablesen, deren Sohn bereits wieder freigekommen ist – nach sieben Jahren Haft. Natalja ist 48, sie will ihren vollständigen Namen nicht nennen. „Was meinen Sohn betrifft, so hat er die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen, vollends verloren.“ Er könne nichts mehr allein tun, „wir sind völlig fertig“. Natalja hat umgerechnet 25.000 Dollar für Gerichtsgutachten, Anwaltskosten und zur Unterstützung ihres Sohnes ausgegeben. Sie ist ruiniert. Das Schlimmste sei aber, dass sie sich manchmal bei dem Gedanken erwische, sich besser gefühlt zu haben, „als er noch einsaß“. Da hätte der Kampf um ihren Sohn noch einen Sinn gehabt. Jetzt fühle der sich minderwertig und chancenlos. „Er sitzt apathisch zu Hause.“Placeholder authorbio-1
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