Wer viel russisches Fernsehen guckt, sagt irgendwann fast zwangsläufig: „Ich weiß nicht, was ich noch glauben soll“
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Ich war vor einigen Jahren im Perm-36, dem einzigen russischen Gulag-Museum, das sich auf dem Gelände eines ehemaligen Arbeitslagers befindet. Einmal wurde mir dort ganz anders: In einer speziellen Strafzelle gab es Metallgitter, an denen sich Gefangene mit bloßen Händen festhalten mussten – im Winter, bei bis zu 30 Grad unter null. Ihre Hände froren an diesen Gittern fest, erklärte mir meine Reiseführerin, ihre Haut riss ab, wenn Wachen sie gewaltsam lösten.
Knapp hinter mir gingen zwei stämmige Männer, auch sie hörten diese Geschichte. „Warum haben die Wachleute das so kompliziert gemacht?“, fragte anschließend der eine. Der andere sagte laut: „Ja, wozu so viel Aufriss um Verräter? Einfach alle an die Wand
n die Wand stellen und fertig.“Eine solche Überdosis Zynismus habe ich anschließend lange nicht abbekommen. Bis zuletzt, als Alexej Nawalny wegen der Verletzung seiner Bewährungsauflagen ins Straflager geschickt wurde. Er hatte sich in Deutschland von einem Giftgasanschlag erholt und sich deshalb nicht ordnungsgemäß bei den russischen Behörden zurückgemeldet. Es wurden auch vermeintliche Verfehlungen Nawalnys aus der Zeit vor der Vergiftung verhandelt, was für den Gesamteindruck aber nebensächlich bleibt.Der Kreml hätte Nawalny wegen was auch immer hinter Gitter schicken können. In einem Land ohne unabhängige Justiz sind die Möglichkeiten logischerweise grenzenlos. Er entschied sich für eine maximal zynische Vorgehensweise. Sie würde übrigens sogar dann zynisch bleiben, wenn Nawalny doch nicht vom FSB, sondern – wie von staatsnahen russischen Medien gebetsmühlenartig angedeutet – von einem ausländischen Geheimdienst vergiftet wurde. Klänge so nicht etwa das Hohelied des Zynismus: einen Staatsbürger, der im eigenen Land von einer bösen fremden Macht vergiftet worden ist, nach seiner Erholung ins Gefängnis zu schicken, weil er sich aus dem Koma heraus nicht rechtzeitig bei den Behörden gemeldet hat?Es geht nicht zuallererst um Putin oder Nawalny. Wenn es stimmt, dass jeder Staat die Herrschenden hat, die er verdient, dann gilt das gleichermaßen für seine Oppositionellen. Man muss nicht mögen, wie Nawalny sich persönlich in Putin verbissen hat, wie er, statt mal endlich eigene Ideen für die Zukunft Russlands zu präsentieren, sogar eine angebliche uneheliche Tochter des Präsidenten in seinem „Putins Palast“-Enthüllungsvideo zeigt, eine Jugendliche, die sicher nicht in die mediale Schusslinie gehört. Nawalny ist früher häufiger mit nationalistischen Äußerungen aufgefallen. Seine Mitarbeiter haben nun versucht, die Straßenproteste auf später im Jahr zu verschieben, wenn sie ihnen politisch mehr nutzen. Als seien diese nicht Ausdruck echter Wut. Was von Nawalny wirklich zu halten ist, wird sich erst noch zeigen, falls er seinen Kampf gegen den Kreml überlebt.Vernichtung durch SpottWas sich aber jenseits des ungleichen Zweikampfs zweier Männer mehr denn je offenbart, ist der Zynismus als zentrales Stilmittel gegenwärtiger russischer Politik. Ein Zynismus, der vielleicht nur die logische Konsequenz ist aus einer nun schon zwei Jahrzehnte währenden Suche nach einem besonderen russischen Weg jenseits vom Westen vorgetrampelter Pfade.Putins Politik ist oft als Mix aus neoliberalen und konservativen Ideen beschrieben worden. Dabei haben die vergangenen Jahre einen starken Zug zum Neoliberalen offenbart, so wurden immer mehr Bereiche der sozialen Fürsorge privatisiert. Am sichtbarsten geworden ist all das durch die Straßenproteste gegen die Anhebung des Rentenalters 2018. Das Vertrauen der Russen in die eigenen Institutionen ist kaum noch messbar. Statt eines Gegensatzes der Systeme mit atomarer Abschreckung existiert nun eine vollkommen atomisierte russische Gesellschaft. Wer mal erlebt hat, wie schwer es Wohltätigkeitsorganisationen dort haben, Spenden zu sammeln, wird verstehen, was gemeint ist. „Die behalten das Geld doch“, lautet das allgegenwärtige Vorurteil.Wie viel von dieser Entwicklung nun gewollt und wie viel komplexen Umständen geschuldet ist, bleibt schwer zu sagen. Eindeutig zeigt sich aber das verheerende Resultat einer spätestens 2012 einsetzenden nihilistischen Form der Propaganda, die nicht mehr, wie in den schlechten alten Zeiten, darauf abzielt, sich selbst als das Gute darzustellen und den Feind zu dämonisieren – sondern nur die Existenz des Guten leugnet. So wird als Antwort auf eigene Polizeigewalt mittlerweile nicht mehr zuerst auf die Rechtmäßigkeit der Mittel, sondern auf prügelnde deutsche, französische, niederländische Polizisten verwiesen. Die russische Medienmaschine bemüht sich gar nicht erst, die roten Kremlmauern golden auszuleuchten. Sie sagt nur: Alle sind böse.So ist der gegenwärtige Zynismus vielleicht als letzte Stufe eines nihilistischen Neoliberalismus zu sehen, in dem für den Staat eine sonderbare Rolle übrig bleibt. Er ist nicht einmal mehr als klassischer Nachtwächter gefragt, schließlich trauen sowohl Putinisten als auch Oppositionelle ihm so wenig, dass sie sich private Sicherheitsdienste leisten, wann immer sie können. Kaum eine Branche boomt in Russland vergleichbar. Der Staat aber ist nur noch ein Märchenonkel, dafür zuständig, die Erzählung der eigenen Größe weiterzuspinnen. Dabei spielt es keine Rolle, dass die Seiten im Märchenbuch des Erzählers schon lange leer sind. Von außen glitzert es so schön.Was der zynische Märchenonkel für Menschen bedeutet, die ihm zuhören, erlebe ich oft im privaten Umfeld. Wer russisches Fernsehen in hoher Dosierung zu sich nimmt, sagt irgendwann fast zwangsläufig den Satz: „Ich weiß wirklich nicht, was ich noch glauben soll.“ Das ist auch kein Wunder bei der Anzahl an Versionen, die der Kreml zu den großen Streitfragen auffahren lässt. Wer alleine beim Fall des abgeschossenen Flugs MH17 mitzuzählen versucht, wie viele unterschiedliche mögliche Tatverläufe russische Staatsmedien bis heute präsentiert haben, wird, je nachdem wie scharf er trennt, auf 20 bis etwa 40 kommen. Ein ganzer Wald an Versionen verstellt jeden möglichen Klarblick.Dabei ist nicht jede Kritik an Russland als Belobigung westlicher Politik zu verstehen. Der neue Kalte Krieg ist kein Nullsummenspiel. Russland ist vom Westen nie als gleichwertiger Partner akzeptiert worden, das befördert zweifelsohne Zynismus. Eine ähnliche Entwicklung ist in der Türkei zu beobachten, die so lange mit einer vorgetäuschten Beitrittsperspektive zur EU auf Distanz gehalten worden ist, bis sie sich zu einem wirklich uneuropäischen Land entwickelt hat. Staaten an ihrer Peripherie als nicht zivilisierbare Barbaren darzustellen, ist für Europas Transatlantiker zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung geworden.Zynismus als politische Ausdrucksform ermöglicht vor allem eine Vernichtung des Gegenübers durch besonders grausamen Spott. Als halb Europa 2018 über den Fall Skripal debattierte, den in Großbritannien vergifteten Überläufer, setzte sich die Chefredakteurin des russischen Auslandssenders RT, Margarita Simonyan, mit den beiden mutmaßlichen Tätern zur besten Sendezeit vor die Kamera, um sie erzählen zu lassen, dass sie Liebhaber englischer Baukunst seien und nur die Kathedrale von Salisbury besichtigten wollten.Auf den ersten Blick wirkte all das wie ein Fehlschlag für den Kreml. Dilettantische Agenten, absurde Theorien, bizarre Aussagen. Betrachtet man den Vorgang durch die Brille des Zynismus, erscheint er aber in einem anderen Licht. Der anerkannte Geheimdienstexperte Andrej Soldatow hat zuletzt noch mal darauf hingewiesen, was für einen nachhaltigen Eindruck die vermeintlich fehlgeschlagene Skripal-Operation auf die Menschen hinterlassen hat, denen sie als Warnung galt, etwa abtrünnigen Exil-Oligarchen. Wir werden euch kriegen, auch wenn wir auffliegen, und später lachen wir euch aus, englische Baukunst und so. Ein doppelter Treffer.Es trägt in Russland sicher zur Entfremdung aller Akteure bei, dass der gegenwärtige Konflikt wie ein pompös inszeniertes Drama anmutet. Ein Held wird vergiftet, überlebt, sammelt Kraft, kehrt zurück und fordert den übermächtigen Imperator heraus. Der gegen ihn angestrebte Prozess wird selbst zu einem absurden Bühnenstück, bei dem allerdings der Imperator nicht persönlich erscheint. Dramaturgisch bleibt also Luft nach oben. Nawalny sagte vor Gericht: „Es gab Alexander den Befreier. Jaroslaw den Weisen. Und nun kommt Wladimir, der Vergifter der Unterhosen. Als der wird er eingehen in die Geschichte.“ Dort sprach Nawalny auch selbst von einer „Theatervorstellung“. Ob er das je gewollt hat oder nicht: Er ist einer der Darsteller.
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