Da steht er jetzt also: Lenin. Mitten im Ruhrgebiet, in Gelsenkirchen. Er misst über zwei gusseiserne Meter, er schaut nach vorne, auf eine Hauptkreuzung. In einer Hand hält er einen Stift und in der anderen einen Block, als wäre er der neue Stadtschreiber. Er ist aber Lenin, der Revolutionsführer. So einer gefällt nicht jedem.
Es hat viel Gezerre gegeben, die Stadtoberen haben Lenin verhindern wollen, auch juristisch. Seit einigen Wochen ist er nun aber da. „Schwer zu ertragen“ sei das, findet der Oberbürgermeister, ein Sozialdemokrat. Lenins Zeitgenossen fühlten sicher ähnlich, denn er war nach allem, was man über ihn lesen kann, mit seiner unbedingten Art kein Mann der Kompromisse. Solche Menschen sind oft nur schwer zu ertragen, selbst wenn man mit ihnen einer Meinung ist. Er sei vermutlich der Erste seiner Art in Westdeutschland, so sagen es viele, auch die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD), die ihn auf ihrem Grundstück vor der eigenen Parteizentrale platziert hat. Sicher ist sich aber keiner. Falls sich irgendwo ein westdeutscher Lenin verkannt fühlt, sollte er sich melden und die Dinge richtigstellen. Ich setze mich derweil mal einen Tag zu ihm. Ich will sehen, was er so macht, mit der Stadt, mit den Menschen, mit mir.
Es ist Samstag, es nieselt, Autos fahren vorbei, Fußgänger zeigen sich keine. Aus einem Fenster ballert Whitney Houstons I wanna dance with somebody. Ob Schmalhorststraße oder An der Rennbahn: Bitte fahren sie durch. Gleich nebenan ist das Schloss Horst. Dort hat die Stadt eine Banderole aufgehängt: #KeinPlatzfürLenin.
Lenin ist facettenreich
Ich beobachte eine Plastiktüte, die vom Wind angehoben, sogleich in wilden Pirouetten um Lenin herumgeschwungen wird, und komme mir vor wie der schräge Junge aus American Beauty. (Kevin Spacey hat in diesem Film die Hauptrolle gespielt, der große Charaktermime. Im Zuge der #metoo-Bewegung wurde er wegen der Vorwürfe sexueller Belästigung von Hollywood exkommuniziert. Was wohl bei einer Kevin-Spacey-Statue hier los gewesen wäre?)
Es ist eine schwierige Zeit für kontroverse Statuen: Weltweit stürzen sie. Vor allem die Helden der kolonialen Gräuel fallen. Revolte. Revolution. Bildersturm. In Deutschland reicht es nur zur Umbenennung der U-Bahn-Station „Mohrenstraße“ in Berlin. Bürger der Welt, schaut auf dieses Land! Lenin hat durch seine Ankunft übrigens mehr als 250 Artikel und TV-Beiträge ausgelöst, überall auf dem Planeten und dann auch noch für das viel geprügelte Gelsenkirchen. Lenin dürfte das alles ohnehin gefallen. Er ist ja Internationalist.
Da, Menschen! Es nieselt nicht mehr und plötzlich tauchen drei Mittfünfziger auf, ein Mann, zwei Frauen. „Wir sind extra gekommen, um ihn zu sehen!“ Sie finden es nicht gut, wenn Geschichte demontiert wird. Sie wohnen in Wuppertal. „Wir haben eine Statue von Friedrich Engels dort!“ Sie stellen sich als Kinder der Sowjetunion heraus. „Aus Odessa.“ Sie machen Fotos, Selfies, stellen sich zu ihm aufs Podest, „bei uns in der Ukraine haben sie Lenin ja überall gestürzt“, sagt der Mann. „Suki“, entfährt es einer der beiden Frauen. Das übersetze ich mal nicht. Die drei gehen.
Etwa 14.000 Statuen des Revolutionsführers soll es weltweit mal gegeben haben. Heute sollen es um die 8.000 sein. Die Zahlen sind übrigens alle ungefähre Angaben von Enthusiasten, denn ein offizielles Register der Statuen hat es in der Sowjetunion nie gegeben.
Wenn ich durch Russland reise, schaue ich mir immer den lokalen Lenin an, was leicht ist, denn er überblickt zumeist den zentralen Platz. In meiner Geburtsstadt Tscheljabinsk am Ural ist er riesenhaft und unerschütterlich, in Fernost hat er oft eine engere Augenpartie und in Ulan-Ude steht der weltgrößte Lenin-Kopf. Als Ruhrpott-Revoluzzer mit seinem Stift und dem Block wirkt er nachdenklich, eher Beamter als Berserker. Lenin ist: facettenreich.
Er wurde 1957 in der Tschechoslowakei gegossen, dort haben ihn die Genossen von MLPD erworben. Also in einem Staat, den es noch nicht gegeben hat, als Lenin und die Bolschewiki zu ihrer Oktoberrevolution angesetzt haben, und den es jetzt schon fast 30 Jahre nicht mehr gibt. So lange ist Lenin her. Was kann er heute überhaupt noch leisten?
Aus dem Gebäude hinter ihm kommt ein hagerer älterer Mann mit Wassereimer und Schwamm. „Diese Statue ist unser Beitrag, damit wieder sachlich über Lenin diskutiert wird.“ Er stellt sich als Wolfgang Göller vor, 69, Mitglied der MLPD. Göller hat keine Mühe, Lenin in die Gegenwart zu hieven. Er hebt Lenins „Ideen für den Klimaschutz“ hervor, kommt auf Tönnies, Corona, Arbeitsbedingungen und Lenins „bescheidene Art“ zu sprechen, während er mit seinem Schwamm den Mantelsaum des Revolutionsführers bearbeitet. Göller regt sich über die Stadt Gelsenkirchen auf, die „von unserem Steuergeld!“ Lenin bekämpfe, etwa mit einer als Antwort auf die Statue gedachten Ausstellung über den Kommunismus im benachbarten Schloss Horst. „Die Stadt hat bei der Eröffnung Nazis hier demonstrieren lassen. Das geht gar nicht!“
Göller regt sich nicht wirklich auf, spricht bedacht, bleibt sympathisch. Er nimmt sich sogar die Zeit, in der an diesem Samstag sonst leergefegten MLPD-Parteizentrale eine Ausstellung über Parteigründer Willi Dickhut zu zeigen. Neben theoretischen Schriften hängt dort auch etwa Stacheldraht, Dickhut war zeitweise in Konzentrationslagern inhaftiert. Sein kommunistischer Kampf, ebenso wie die Ideen der MLPD weisen durch alle Verwerfungen des vergangenen Jahrhunderts große Kontinuität auf. Können Antworten richtig bleiben, wenn sich die Fragen mit der Zeit ändern?
Es scheint alles so entspannt rund um Statue und Partei an diesem Tag, wie es in Wirklichkeit aber nicht ist. Auf Göller wurde 2019 ein Anschlag verübt, seine Autoreifen wurden aufgeschnitten, damit sie bei höherer Geschwindigkeit platzen. Regelmäßig haben MLPD-Mitglieder Probleme mit ihren Arbeitgebern oder den Gewerkschaften, in denen viele von ihnen tätig sind, eben wegen ihrer Parteitätigkeit. Das liegt daran, dass sie diesen Staat, so wie er jetzt verfasst ist, überwinden wollen. Im Parteiprogramm heißt es: „Die materiellen Voraussetzungen für die vereinigten sozialistischen Staaten der Welt sind ausgereift wie nie zuvor in der Geschichte.“
Drei Sterne bei Google Maps
Später sitze ich wieder bei Lenin, er scheint sich schon an mich gewöhnt zu haben. Es kommen nun trotz Regen mehr Leute, um ihn zu sehen, die meisten finden ihn gut. Nutzer von Google Maps bewerten den Gelsenkirchener Lenin übrigens mit drei von fünf Sternen im Durchschnitt, alle Bewertungen weisen entweder keinen oder fünf Sterne auf. Lenin ist: kontrovers.
Eine Mercedes-Limousine hält. Ein Mann mit weißem Haar steigt aus. Ohne danach gefragt zu werden, verkündet er: „Ich bin ja eigentlich rechts.“ Den Lenin wolle er trotzdem sehen. Er läuft einmal um die Statue herum, schaut, „ja, ist gut geworden“, erklärt dann, wie und wieso er rechts sei. „Ich meine damit, dass mir meine eigenen Leute wichtiger sind als Fremde, ein eigenes Kind näher als ein Kind in Afrika. Ist doch so, oder?“
Eine Antwort braucht er nicht unbedingt, er erklärt lieber lange, wie schlecht es ihm finanziell gehe, während den Flüchtlingen alles in den Hintern geschoben würde, wie die Flüchtlinge alles bürokratielos erhalten würden, wie ... Ich kann nicht anders, als während seiner Rede seine Limousine zu betrachten, eine gewisse Bild-Text-Schere tut sich auf. Als er meinen Blick sieht, sagt er: „Das Auto habe ich mir gekauft, da habe ich noch gearbeitet.“
So plötzlich, wie er aufgetaucht ist, eilt der Mann wieder zu seinem Auto. „Du bist wahrscheinlich so ein Linker, ne?“, fragt er noch. „Wahrscheinlich.“ Er nickt, kratzt sich ausführlich am Kopf. „Ja. Ist ja auch nicht schlecht.“ Am Abend rede ich länger mit einem Mann, der sich selbst als „altlinke Zecke“ bezeichnet. Danach formiert sich ein Gedanke: Das größte Problem links denkender Menschen in Deutschland ist, dass sie sich von den Konservativen haben einreden lassen, dass sie angeblich gewonnen hätten, so insgesamt. Vielleicht sollte ich von solchen gewagten Thesen aber auch Abstand halten. Das muss sein Einfluss sein. Lenin ist aber auch: leicht zu vereinnahmen. Er starb 1924, niemand kann mit Sicherheit sagen, wohin genau er die Sowjetunion gelenkt hätte. Es hätte sowohl ein sozialistisches Arbeiterparadies als auch eine kriegslüsterne Diktatur werden können. Oder beides zusammen.
Lenin ist jedenfalls: wohl nicht mehr lange alleine. Die Parteigänger wollen ihm bald einen bekannten Genossen zur Seite stellen. Es ist Karl Marx.
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