Wieder einmal wurde eine der vom Kreml reklamierten „roten Linien“ überschritten. Nach den Gefechten im Raum Belgorod sind russische Grenzregionen de facto Kriegsgebiet. Dabei ist das Agieren ukrainischer Sabotageeinheiten über die Grenze hinweg seit Längerem zu beobachten, doch beschränkten die sich bisher auf die klassische Diversion wie das Sprengen von Bahntrassen, Strommasten und Öldepots. Zudem fanden diese Operationen verdeckt und medienfern als Nadelstiche im Hinterland des Gegners statt. Zu den Vorstößen in die russischen Ortschaften Graiworon und Kozinka am 22. Mai kam es dagegen im Frontalangriff und am helllichten Tag, eine neue Qualität ukrainischer Kriegsführung auf russischem Staatsgebiet.
Grenzposten eingenommen
Zwar
ommen Zwar schob Kiew die Verantwortung auf „russische Partisanen“ ab, jedoch weisen nicht nur die moderne Ausrüstung und Artillerieunterstützung sowie vorherige Erklärungen ukrainischer Vertreter auf eine gut durchplante Operation hin statt auf nebulöse Untergrundkämpfer aus den Wäldern. Der Vorstoß auf Graiworon begann mit schwerem Beschuss des Grenzpostens durch ukrainische Artillerie. Anschließend überquerte ein Trupp in Kolonne die Grenze, bestehend aus einem Dutzend Fahrzeugen aus US-Produktion, darunter mindestens sieben gepanzerte, minenresistente MaxxPro-Einheiten, mehrere Humvee-Jeeps und ein Kampfpanzer. Nach der Einnahme des Grenzpostens rückte der Verband bis zu acht Kilometer vor, besetzte mehrere Ortschaften und geriet schließlich unter Einsatz mitgeführter Minenwerfer in schwere Gefechte mit heraneilenden russischen Verbänden. Erst am nächsten Tag konnten die mithilfe von Kampfjets und -helikoptern den Angreifer zurückdrängen, der in Richtung Ukraine abzog, wo es am nächsten Tag eine ausführliche „Pressekonferenz“ für ukrainische Journalisten gab. Mit „Partisanenkampf“ hatte das Ganze wenig zu tun, auch wenn die beiden an dem Vorstoß beteiligten Bataillone des Russischen Freiwilligenkorps (RDK) und der Legion der Freiheit Russlands (SR) mehrheitlich Exilrussen rekrutieren, die aber klar ukrainischer Operationsplanung unterstellt sind. Mit der Aufstellung solcher Verbände aus ethnischen Russen begann Kiew schon vor Monaten und verfolgte damit offenbar das Ziel, „Russenkorps“ effektiv auf russischem Territorium einzusetzen, ohne dabei allzu große politische Risiken einzugehen. Gegenüber besorgten westlichen Partnern und Medien ließ sich stets auf das Alibi „interner russischer Konflikte“ mit „Partisanen“ zurückgreifen, obgleich die Operationen zweifellos vom Geheimdienst und Generalstab entworfen waren – alles andere hätte deren Autorität untergraben. Auch der Zeitpunkt des Vorstoßes auf Graiworon war augenscheinlich nicht zufällig gewählt. Zwei Tage zuvor hatte Wagner-Chef Jewgenij Prigoschin die vollständige Einnahme Bachmuts verkündet. Neben der militärischen Niederlage zugleich ein mediales Fiasko für die Selenskyj-Regierung, die zuvor entgegen aller Ratschläge betont siegessicher erklärt hatte, an der kompromisslosen Verteidigung der Stadt festzuhalten.Artilleriebeschuss und gepanzerte HumveesDie „Fortezia Bachmut“ (Festung Bachmut) werde nicht fallen, ließ Kiew über Wochen verlautbaren. Am 20. Mai war es dann doch so weit und provozierte im ukrainischen Mediensegment einigen Wirbel. Am 22. Mai „passierte“ medienwirksam der Angriff auf Graiworon. Zahlreiche Aufnahmen, sei es vom Artilleriebeschuss des Grenzpostens oder vom Einrücken der MaxxPro-Fahrzeuge sowie gepanzerter Humvees in russisches Terrain, wurden im Stundentakt oder per Live-Ticker auf ukrainischen Portalen übertragen, die perfekte mediale Ablenkung von Bachmut. Das bittere Ende der vorerst längsten und symbolträchtigsten Schlacht des Krieges war überspielt und vergessen, die Medienlandschaft grenzüberschreitend mit den Ereignissen in Graiworon geflutet. Ukrainische Medien stürzten sich auf Belgorod, statt unangenehme Anfragen über Bachmut zu stellen. Mit der Causa Belgorod rettete sich Kiew geschickt aus der Causa Bachmut. Zuvor hatte es bereits brisante Medienberichte gegeben, wonach Kiew Vorstöße auf russisches Territorium plane. Unter anderem berichtete die Washington Post, dass Wolodymyr Selenskyj hinter verschlossenen Türen die Besetzung russischer Ortschaften erwogen habe, um sich „Druckmittel“ gegenüber Moskau zu verschaffen. Ende Januar schon sei bei Selenskyj die Rede davon gewesen, „nicht näher benannte russische Grenzstädte zu besetzen“. Ende April erklärte Bohdan Krotevych als Sprecher des Azow-Regiments fast wortgleich, dass die Ukraine im Zuge ihrer Gegenoffensive „kleine russische Städte“ besetzen könnte, um sie gegen eigene Territorien auszutauschen. Die Vorgänge in Belgorod wirkten da wie ein Testlauf. Es ist fest davon auszugehen, dass sich ähnliche ukrainische Aktionen wiederholen, bei denen als „russische Partisanenverbände“ getarnte Einheiten auf russisches Gebiet vorstoßen. Kiew setzt darauf, die dortige Bevölkerung unter Druck zu setzen und zu verunsichern. Aus jedem Angriff werden sich unangenehme Fragen an den Kreml und das Verteidigungsministerium ergeben.Russische Truppen bindenSchließlich haben diese Raids eine klare militärstrategische Komponente. Gerade angesichts der Washington-Post-Leaks zu Selenskyj und der Aussagen von Krotevych lassen sich die Operationen als direktes „Vorspiel“ zu einer ukrainischen Offensive deuten, um russische Truppen entlang der gesamten Grenze zu binden und einige Ortschaften sogar dauerhaft zu besetzen. Dass dafür westliche Militärtechnik genutzt wird, steht außer Zweifel. MaxxPro-Fahrzeuge und Humvee-Jeeps waren bereits im Einsatz, vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis bei einem der nächsten Vorstöße deutsche Leopard-Panzer auf russischen Boden rollen.