Anfang September überschlugen sich die Ereignisse. Ukrainische Truppen überrannten in der Region Charkiw regelrecht die russischen Verbände. Fluchtartig zogen die sich aus fast der gesamten Provinz zurück und ließen massenweise Technik liegen. In Kiew träumte man bereits von baldiger Rückeroberung des Donbass und der Krim. Oleksij Danilow, Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates, deutete an, die Landesgrenze müsse dabei kein Halt sein.
Mittlerweile schlägt Moskau zurück. Innerhalb weniger Tage riefen die Luhansker und Donezker „Volksrepubliken“ wie die Militärverwaltungen in Cherson und Saporischschja „Referenden zum Beitritt in die Russische Föderation“ aus und zogen die Abstimmungen ohne große Vorber
3;e Vorbereitung durch. Hinzu kam die von Wladimir Putin verkündete „teilweise Mobilmachung“. Frontlinie „verfestigen“So deutet vieles darauf hin, dass der Ukrainekrieg kurz vor Herbstschlamm und Winterfrost ein neue Phase erreicht. Möglich, dass eine „erste Welle“ der Teilmobilmachung zwischen 300.000 und 500.000 Soldaten unter Waffen stellt, auch wenn noch Wochen vergehen, bis sie adäquat ausgerüstet tatsächlich im Kampfgebiet eintreffen. Laut dem Moskauer Militärbeobachter Juri Podoljak könnte es gar bis Januar dauern, dass die Front mit allen mobilisierten Soldaten „gesättigt ist“ – bis dahin werde die personelle Lage für russische Fronttruppen extrem angespannt bleiben. Was die ukrainische Armee ausnutzen und bis zum Beginn des Winters unumkehrbare Fakten schaffen könnte. Um dies zu verhindern, hat das russische Oberkommando Defensive befohlen. Entlang der Flüsse Oskil und Siwerskyj Donez werden bereits im Eiltempo neue Verteidigungslinien ausgebaut und Minenfelder entlang der „Kontaktlinie“ mit dem Gegner angelegt. Die Devise heißt Zeitgewinn, um weiteren Gebietsverlust zu vermeiden und eine verwaltungstechnische Aufnahme der besetzten Gebiete abzusichern. Vorerst sind demnach keine großen Offensivoperationen zu erwarten.Gleich mehrere hochrangige Politiker gaben in Moskau zu verstehen, dass die mobilisierten Soldaten dazu gedacht seien, eingenommene Territorien zu verteidigen und die Frontlinie zu „verfestigen“. So erklärte Verteidigungsminister Sergej Schojgu gleich nach Putins Mobilmachungsrede vom 21. September, die neuen Truppen sollten vorzugsweise Gebiete hinter der Frontlinie halten. „Die Kontaktlinie ist über tausend Kilometer lang. Natürlich muss alles, was hinter und auf dieser Linie ist, gesichert werden.“ Ähnlich äußerte sich der Chef des Verteidigungskomitees der Duma, Andrej Kartapolow. Durch die Teilmobilmachung werde „eine operative Tiefe“ für militärische Handlungen in der Ukraine erreicht. Kein Wort von neuen Offensivoperationen. Der Winter dürfte Moskau in die Hände spielen, weil er ukrainische Angriffe erschwert und die ukrainische Wirtschaft durch eine bisher ungeklärte Energieversorgung schwer treffen könnte.Zugleich wird erwartet, dass Moskau mittelfristig wieder in die Offensive geht. Bereits für März rechnen russische Konfliktbeobachter mit einer neuen „Frühlingskampagne“, sobald die Truppen komplett aufgestockt und koordiniert sind. Davon betroffen werden mit hoher Wahrscheinlichkeit die Provinzen Donezk und Saporischschja sein. Dies geht allein schon aus den Formulierungen hervor, die zu den Referenden verwendet werden. Die Rede ist nicht nur von „bereits eingenommenen Territorien“, sondern explizit von den kompletten Regionen Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk als „Oblaste“ in ihren administrativen Grenzen. Im Klartext bedeutet das, der Kreml verpflichtet sich regelrecht dazu, diese Gebiete vollständig einzunehmen. Die Frage ist daher nicht, ob – sondern wann es darauf ausgerichtete Offensivbemühungen gibt. Von russischen Kriegsreportern hieß es bereits, dass die 300.000 Mobilisierten langfristig nicht ausreichen würden, wolle Moskau die erklärten Ziele erreichen. Um nicht nur bereits kontrolliertes Terrain zu halten, sondern den Rest einzunehmen, würden 500.000 bis eine Million Soldaten gebraucht. Analyst Juri Podoljak meinte am 26. September, er rechne mit einer „zweiten Welle der Mobilmachung“. Alles andere würde den vom Kreml selbst gesetzten und kommunizierten Zielen widersprechen.Die Eingliederung von Gebieten wie die Teilmobilmachung schaffen somit vollendete Tatsachen, denen der Kreml selbst nicht mehr entkommen kann. Ein großes Wagnis wie ein unmissverständliches Zeichen sowohl nach innen als auch an das Ausland, verschränkt mit der Botschaft: Rückzug oder Kapitulation – das steht nicht zur Debatte. Aus einer „Sondermilitäroperation im Ausland“ wird zunächst rein rhetorisch ein „Krieg um eigene Territorien“. Dazu die klaren Ansagen aus dem Kreml wie dem russischen Parlament. „Ein Angriff auf die eingegliederten Gebiete wird nach dem Referendum als Angriff auf ganz Russland betrachtet, mit allen Konsequenzen“, so Konstantin Kossatschow, Mitglied des Föderationsrates. Kremlsprecher Dmitri Peskow gibt bekannt, dass die Gebiete nach den Referenden und der formellen Aufnahme „sofort unter die Verfassung der Russischen Föderation fallen“. Eine ukrainische Offensive in diesen Regionen werde als Offensive gegen Russland selbst gewertet und Reaktionen gemäß der russischen Verfassung nach sich ziehen. Darunter fielen etwa eine mögliche Generalmobilmachung oder die Ausrufung des Kriegsrechts (noch vor wenigen Wochen waren diese Optionen für den Kreml obsolet). Zudem greift vom Moment der Eingliederung an die russische Militärdoktrin. Die angeschlossenen Gebiete geraten unter den russischen Nuklearschirm und können im Falle einer „kritischen Gefahr für die territoriale Integrität“ durch den Einsatz von taktischen Atomwaffen verteidigt werden.Schwer in der PflichtKeine Frage, Moskau erhöht den Einsatz und scheut das Risiko nicht. Es verschärft einerseits die militärische Komponente des Konflikts, schafft dazu außenpolitisch Fakten und setzt zugleich innenpolitisch einen „Point of no Return“ für sich selbst. Da es sich nach den „Beitrittsreferenden“ um die „Verteidigung eigener Territorien“ handelt, ist ein „strategischer Rückzug“ wie Anfang März vor Kiew, eine „taktische Umgruppierung“ wie jüngst rings um Charkiw oder „ein Zeichen des guten Willens“ wie auf der Schlangeninsel schlichtweg nicht mehr möglich.Moskau muss dann laut eigener Verfassung um diese Gebiete mit allen verfügbaren Mitteln kämpfen und darf sie selbst bei Verhandlungen nicht zur Disposition stellen. Ein Rückzug aus diesen Territorien wäre für die russische Regierung rein verfassungstechnisch nicht mehr möglich. In Übereinstimmung mit der Verfassung ist das Abtreten eigener Territorien gesetzlich verboten. Der Kreml nimmt sich daher schwer in die Pflicht. Umso kompromissloser und härter werden die kommenden Schlachten sein.