Nach eher statischen Wochen tobt der Krieg seit Ende August wieder mit voller Wucht. Ukrainische Truppen holen zu einer Doppeloffensive aus – in der südlichen Provinz Cherson und seit 6. September in der östlichen Region Charkiw. Ablauf und Erfolgsbilanz beider Operationen unterscheiden sich diametral voneinander. Sind sie Vorboten eines gefährlichen mentalen Wendepunktes in diesem Konflikt?
Die Südoffensive ist nach kurzer Zeit weitgehend versandet. Ukrainische Truppen konnten zwar einige kleinere Ortschaften einnehmen, mussten dafür aber einen immensen Blutzoll in Kauf nehmen. Laut Washington Post betrugen die Verluste an einigen Frontabschnitten im Raum Cherson das Fünffache der russischen.
Ganz anders stellt sich die Lage um Charkiw dar. Zwar warnten r
harkiw dar. Zwar warnten russische Militärportale seit Ende August, dass sich in diesem Raum ein Sturm zusammenbraut, nur fand das offensichtlich kaum Gehör. Als am 6. September der ukrainische Angriff bei Balaklija und Izjum begann, schien die russische Kommandoführung regelrecht überrumpelt zu sein. Innerhalb von fünf Tagen gingen Stellungen in der gesamten Charkiw-Provinz verloren. Truppen wurden hastig zurückgezogen, massenweise Technik und Munition dem Gegner überlassen. Die verlagerten Einheiten haben eine neue Verteidigungslinie entlang des Oskil-Flusses bezogen.„Charkiw-Desaster“: Gefahr ignoriertIn Moskau tobt die Aufarbeitung, wie es zum „Charkiw-Desaster“ kommen konnte. Kriegsreporter nennen vor allem beschönigte Berichte „nach oben“ als einen der Gründe für das Debakel. Wo auf Papier ganze Bataillone standen, waren in Wirklichkeit gerade einmal 20 bis 50 Prozent an Personal und Technik präsent. Des Weiteren wurde die ukrainische Offensivgruppierung bei Charkiw sträflich unterschätzt. Die russischen Befehlsränge schienen auf beiden Augen regelrecht blind zu sein. Als Folge wurden weder Verteidigungsanlagen errichtet noch Reserven herangezogen noch Minenfelder angelegt. Überdehnte Entscheidungsketten taten ein Übriges, sodass russische Verbände bei Charkiw innerhalb von fünf Tagen geradezu kollabierten.Auf taktischer Ebene haben ukrainische Truppen der Welt und vorrangig sich selbst gezeigt, dass sie groß angelegte Offensivoperationen führen und Gebiete gegebenenfalls überrennen können. Angeblich bereitet Kiew bereits eine dritte Offensivwelle bei Wuhledar vor, um die Krim-Donbass-Landbrücke zu zerschlagen, während sich die russische Armee darauf konzentriert, gerade diese Frontlinien bis zum Wintereinbruch zu halten. So ließe sich die Kontrolle über die aktuell gehaltenen Territorien konsolidieren und die Truppe für das Frühjahr 2023 umstrukturieren. Ein relevanter Vorteil könnte sich aus dem Erwerb von tausend iranischen Drohnen ergeben, gedacht als Konter, um westliche Waffenlieferungen auszugleichen. Besonders in der Steppengegend von Cherson wird diesen Systemen ein großes Angriffspotenzial zuerkannt. Der Transfer nach Russland hat bereits begonnen, allerdings braucht es Zeit, um Personal zu schulen. In der Winterpause wäre sie theoretisch vorhanden.Auf der ukrainischen Seite herrscht Siegesrausch. Offizielle erklären, dass ein Zurückdrängen der russischen Truppen hinter die Linie vom 24. Februar nicht mehr ausreiche. Verhandlungen würden erst beginnen, wenn auch der Donbass und die Krim zurückerobert seien. Alexej Danilow, Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates, deutete am 10. September sogar an, dass künftige Offensiven nicht unbedingt an ukrainischen Grenzen haltmachen müssten. „Unsere Armee wird dort stehenbleiben, wo unsere Interessen enden. Und das wird von vielen Bedingungen abhängen“, reagierte er auf die Frage einer Journalistin, wo ukrainische Truppen stoppen würden – „auf der Krim, in Moskau?“Noch blutigerAngesichts solcher Aussagen könnte in Russland eine mentale Zäsur unausweichlich sein. Man wird sie als Ausdruck einer realen Gefahr verstehen, wonach Gefechte mitten auf russischem Territorium geführt werden könnten. Immer öfter fällt nun das Wort „Mobilmachung“, gebraucht von Politikern, die das noch vor Kurzem von sich wiesen. Verstärkt wird verlangt, die „Sonderoperation“ offiziell zu einem „Krieg“ hochzustufen, mit allen daraus folgenden Konsequenzen, und „endlich mit den halben Maßnahmen aufzuhören“. Und es wird die Frage nach dem „begrenzten Einsatz von taktischen Kernwaffen geringer Sprengkraft“ aufgeworfen, falls eine Niederlage am Horizont aufscheint.Die Charkiw-Offensive verspricht kein baldiges, geschweige denn ein leichtes Kriegsende, sondern womöglich noch blutigere Etappen mit ungewissem Ausgang. Die ukrainische Führung will im Glauben an militärische Überlegenheit nicht nur Donezk, Luhansk und die Krim zurückerobern, sondern „die Russen bis nach Moskau treiben“. Russland scheint plötzlich für Militärschläge und eine Mobilmachung bereit zu sein, die zuvor undenkbar waren. Von Verhandlungen spricht niemand.